Moritz Bleibtreu: Aus Protest wurde ich bürgerlich
Interview: Moritz Bleibtreu über seinen Kinderfilm, seine Jugend mit türkischen Freunden und seine Pläne als junger Vater.
Düsseldorf. Herr Bleibtreu, mit welchen Märchen sind Sie aufgewachsen?
Bleibtreu: Mir wurde viel aus Grimms Märchen vorgelesen. Als ich dann selbst anfing zu lesen, waren "Momo", "Jim Knopf" und "Die unendliche Geschichte" ganz weit vorn, diese illustrierte erste Fassung mit den roten und den schwarzen Seiten. Ich hab auch Astrid Lindgren gemocht, aber nicht "Pippi Langstrumpf", sondern "Die Gebrüder Löwenherz".
Bleibtreu: "Der kleine Muck" war okay, aber sonst war "1001 Nacht" nie so ganz mein Ding. Die grauen Herren, die die Zeit klauen, fand ich spannender als fliegende Teppiche.
Bleibtreu: Sagen wir mal so: Die Affinität hat mich eingeholt. Ich weiß bis heute nicht, warum ich immer Türken und Griechen spielen muss. Das hat sich irgendwie ergeben, aber das ist okay. Ich bin in Hamburg in einer Gegend aufgewachsen, in der der Ausländer-Anteil bei 80 Prozent lag, meine Freunde sind fast alles Türken.
Bleibtreu: Ich war oft bei meinen ausländischen Freunden zuhause und bin auch mit ihren Werten groß geworden. Irgendwann waren die mir viel näher als die deutschen Moralvorstellungen. Wenn es hieß, dass man um acht Uhr abends zu Hause sein muss, dann hab ich mich nie gefragt, warum. Für eine türkische Tochter ist acht Uhr ja noch gut! Bei mir zu Hause gab’s das klassische Familienleben nicht, bei uns war immer alles ein bisschen schräger.
Bleibtreu: Ja, klar. Aber jedes Kind lehnt sich gegen das auf, was es hat. Die Kinder aus wohlbehüteten Familien wurden damals alle Punks. Meine Kindheit war sehr verrückt, ausgeflippt, punkig - deshalb bestand meine Rebellion darin, bürgerlich zu sein. Ich fand das ganz toll, wenn ich Familien gesehen habe, die zusammen zu Mittag essen, abends zusammen an einem Tisch saßen und bei denen die Kinder immer ein Schulbrot hatten. Das wollte ich auch. Erst später habe ich geschnallt, dass das Leben, das wir geführt haben, auch seine Vorteile hatte.
Bleibtreu: Meine bürgerlichen Freunde fanden es bei uns zuhause total geil, weil meine Mutter alles erlaubte. Bei uns durfte man immer alles machen, man konnte kommen und gehen, wann man wollte.
Bleibtreu: Das Wichtigste ist, Kinder als das wahrzunehmen, was sie sind. Man beobachtet immer, wie Eltern ihre Kinder vergleichen: "Meiner redet schon", oder "Deiner läuft ja noch nicht". Alles Käse. Der Eine macht’s so, der andere so, die werden schon alle laufen lernen. Viel wichtiger ist, zu begreifen, was das Kind für eine Seele hat. Dass die Seele schon da ist, davon bin ich überzeugt.
Bleibtreu: Meine Mutter hat immer gesagt: "Wenn Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel." Besser kann man das gar nicht sagen. Zuerst brauchen Kinder Vertrauen, dass man sich um sie sorgt. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo man sagen muss: "So, jetzt geh und mach!" Man sollte Kindern schon immer etwas zutrauen und sie tendenziell eher über- als unterfordern. Das Zweitwichtigste ist Ehrlichkeit. Von meiner Mutter habe ich gelernt, wie wichtig es ist, dem Kind alles zu erklären, vor allem sich selbst. Und dass man auch als Elternteil Fehler zugeben kann.