Mythos Richard von Weizsäcker

Der CDU-Politiker war ein deutscher Ausnahme-Präsident. Am Samstag wird der charismatische Staatsmann 90 Jahre alt.

Berlin. Zu einem runden Geburtstag schreibt man ja so manches Höfliche schnell dahin. Aber bei Richard von Weizsäcker, diesem Ausnahme-Präsidenten, scheint kein Wort der Wertschätzung zu weit hergeholt, keine Lobpreisung zu emphatisch, kein Kränzchen zu schön geflochten. Wie kann das sein?

Wer sich durch die nunmehr neun Jahrzehnte des am 15. April 1920 in einem Stuttgarter Diplomaten-Haushalt geborenen Mannes arbeitet, den es als Kind durch die Weimarer Republik, als Heranwachsenden durch das Dritte Reich, als Erwachsenen durch die Bundesrepublik geführt hat, kommt an Begriffen wie Aura, Charisma, Haltung, Würde, Ernst und Souveränität nicht vorbei. Die Macht des Wortes und wie man es intoniert ist sein wichtigstes Werkzeug. Gepaart mit einem gediegenen Gestus, den er sich auf Schulen in Berlin, Dänemark und der Schweiz sowie im Studium in Oxford und Grenoble zugelegt hat.

Sein Lebensweg führte ihn vom hoch angesehenen "Infanterieregiment 9", das 19 Offiziere im Widerstand gegen Hitler verlor, erst als Jurist zu Mannesmann, vom Industriellen zum Privatbankier und vom kleinen Bruder des großen Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker zu einem der populärsten deutschen Staatsmänner.

Was Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Kapitulation von Nazi-Deutschland sagte, ist in 25 Sprachen übersetzt worden: "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Ein Manifest der Autorität, Integrität und Lebensklugheit, entstanden in einer Zeit, als Politikverdrossenheit zum Modewort der Deutschen wurde.

An diesem Tag wurde der Mythos Weizsäcker begründet. Wann immer seither die Verunsicherung über politisch-ethische Fragen mit Händen zu greifen war, wann immer einer gesucht wurde, der abgekoppelt von Parteien denken und urteilen kann, durfte man gewiss sein, dass sein Name fiel.

Weizsäckers Gabe, Menschen für sich einzunehmen, trotz der ihn umgebenden Distanz, wurde oft mit seinem angeblichen Hang zu Sanftmut erklärt. Ein Fehlurteil, wie die jahrzehntelange diskret gelebte Rivalität zu Helmut Kohl beweist. Ohne ausgeprägten Ehrgeiz und feine Antennen für Macht hätte der preußische Schwabe Weizsäcker die vielen Fallen des Oggersheimers nicht umgehen können. Erst 1997, drei Jahre nach Ende seiner zweiten Amtszeit, rechnete Weizsäcker mit Kohl ab. Im "Spiegel" sagte er, die Kraft, die Kohl auf den Erhalt von Macht verwende, übersteige bei weitem die konzeptionelle Pionierarbeit, "von geistiger Führung ganz zu schweigen".

Wenn Richard von Weizsäcker, dem leidenschaftlichen Wanderer und Skilangläufer, bis heute etwas Unbehagen bereitet, dann gedankliche Behäbigkeit. Noch im Februar saß er des Mittags gemeinsam mit sechs anderen, deutlich älter wirkenden Politgrößen vom Schlage eines Henry Kissinger im Berliner Hotel Adlon und stritt leidenschaftlich für eine atomwaffenfreie Welt. Befragt von einem Journalisten nach der Durchschlagskraft solcher Appelle, antwortete Richard von Weizsäcker leise: "Wir haben kein Mandat, aber Einfluss auf unsere Regierungen." Ein Glück.