Fehlende gesellschaftliche Solidarität Toter in Essener Bank: „Es hätte euer Opa sein können“

Nicht Entschuldigung, aber Erklärungsansatz: Warum Bankkunden einem hilflosen Mann im Geldautomaten-Raum nicht halfen.

Fehlende gesellschaftliche Solidarität: Toter in Essener Bank: „Es hätte euer Opa sein können“
Foto: Polizei Essen/dpa

Düsseldorf. „Es hätte euer Vater oder Opa sein können.“ Das schrieb ein empörter Mensch auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, als bekannt geworden war, dass Bankkunden im Geldautomaten-Raum einer Essener Bank einen zusammengebrochenen Mann ignorierten. Ein Satz, der auch Leitfaden dafür ist, warum das Strafgesetzbuch nicht nur diejenigen bestraft, die aktiv andere Menschen verletzen. Grundgedanke dafür, dass auch mit Strafe rechnen muss, wer im Notfall nicht hilft, ist die Wahrung von gesellschaftlicher Solidarität. Eine Hilfspflicht also nicht nur, wenn es um den Vater, den Opa oder andere Nahestehende geht.

Und doch macht der Hinweis auf „Vater und Opa“ die Sache greifbarer. Ebenso wie der Gedanke, dass jeder in die Situation kommen kann, in der er auf die Hilfsbereitschaft anderer angewiesen ist.

Die Opferperspektive ist das eine. Nicht minder bedrückend ist eine andere Frage: Wie steht es um die Täter, hier: die Unterlassungstäter? Waren sie zutiefst unmoralische Menschen? Zeigt nicht die Tatsache, dass sich gleich vier Menschen in dem Bankraum so verhielten und dem Mann nicht zu Hilfe kamen, etwas ganz anderes — dass nämlich dieses Verhalten gar nicht so ungewöhnlich ist? Was automatisch zu der beklemmenden Frage führt: Wie hätte ich mich denn verhalten?

Selbst wenn es moralisch und rechtlich keine Entschuldigung dafür geben kann, dass diejenigen, die helfen konnten, nicht einmal einen Notruf absetzten — es gibt Erklärungsansätze für ein solches Verhalten. Und eben diese machen die Sache am Ende noch unheimlicher. Weil sie zeigen, dass so etwas der Gesellschaft immer wieder und vielleicht auch jedem von uns passieren kann.

Zwei Männer, die gewissermaßen hauptberufliche Nothelfer sind und die Realität auf der Straße kennen, klingen da durchaus verbittert. Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft sieht einen „kollektiven Empathieverlust in der Bevölkerung“. Egoismus gehöre zum Zeitgeist. Und Arnold Plickert von der Gewerkschaft der Polizei sieht die Ignoranz gegenüber dem Leid der anderen noch durch ein anderes Phänomen bestätigt. Gaffer bei Unfällen sehen nicht nur das Leid der anderen, sondern fühlen sich dadurch sogar noch angezogen. Sie filmen mit ihren Smartphonekameras die Szenerie, behindern dabei noch die Rettungskräfte.

Die zunehmend verrohende Gesellschaft, für die auch die Hassmails im Internet ein weiteres Symptom sind, ist der eine Erklärungsversuch. Der Berliner Psychologe Peter Walschburger hat einen anderen, eher individuellen Ansatz. In einem Interview mit der Deutschen Presse Agentur sagte er über den Essener Fall: „Es ist eine leere Schalterhalle, an einem Tag, wo die Bank geschlossen ist. Man will noch schnell Geld ziehen, hat es vielleicht eilig.

Und dann wird man mit etwas Unangenehmem, Fremdem konfrontiert. Man hat schon öfter einen Obdachlosen so daliegen sehen. Für einen Moment denkt man: Soll ich jetzt den Notruf wählen? Vielleicht ist es aber doch nichts Ernsthaftes, dann blamiere ich mich. Müsste ich nicht auch versuchen, den zu reanimieren? Das traue ich mir aber gar nicht zu. Und dann entscheidet man sich — auch, weil man sich unbeobachtet fühlt — dafür, nichts zu tun. Und das ist natürlich genau falsch.“

Dass die Menschen in einer Großstadt-Anonymität achtlos gegenüber einander sind, sieht Walschburger als weiteren Aspekt, der das Nichtstun in einer solchen Situation erklären mag. Sein Kollege Gerd Bohner, Bielefelder Professor für Sozialpsychologie, erklärte das in der „Süddeutschen Zeitung“ so: „Wenn jemand auf offener Straße im ländlichen Raum zusammenbricht, helfen die Menschen eher. Nicht, weil sie die besseren Menschen sind, sondern weil sie davon ausgehen müssen, dass nicht so bald der nächste Helfer kommt. Und weil sie in eine peinliche Lage kommen könnten, wenn sie nicht helfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie denjenigen, der Hilfe braucht, am nächsten Tag beim Arzt treffen, ist höher. Eine Großstadt ist viel anonymer.“

Auch in dem sogenannten Zuschauereffekt sehen Psychologen eine der Ursachen, warum manch einer passiv bleibt. Je mehr Menschen einen Notfall beobachten, desto geringer die Chance, dass einer von ihnen hilft. Weil sich keiner angesprochen fühlt. Was geht mich das an?, rechtfertigt man sich vor sich selbst. Sollen doch die anderen helfen. Auch in den Essener Bankraum traten schließlich mehrere Menschen ein, erst der fünfte half — zu spät für den alten Mann.

All das sind Erklärungen, am Ende freilich keine Entschuldigungen. Auch wenn der Essener Fall nicht Anlass für die von der Landesregierung ausgerufene „Woche des Respekts“ vom 14. bis 18. November war — die Kampagne kommt zur rechten Zeit. Es geht um den anständigen und respektvollen Umgang, um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Hintergrund sind neben der Hetze im Internet und den Übergriffen etwa auf Polizisten auch das Mobbing im alltäglichen Umgang miteinander. Es geht um positive Zeichen für Engagement in der Gesellschaft, um die Würdigung von Zivilcourage.

Der Essener Fall könnte — etwa in Schulen — Anlass sein, Empathie und Hilfsbereitschaft zu thematisieren oder auf Erste-Hilfe-Ausbildungen zu verweisen. Mit der Strafandrohung für Unterlassungstäter, die seit jeher im Strafgesetzbuch steht, ist es nicht getan.