Weihnachts-Welt aus Zinn
Sie war schon fast eingeschlafen: die Tradition der Zinngießerei. Heute sind die bunten Däumlinge, einst Spielzeug von Kindern, begehrte Sammelobjekte.
Düsseldorf. Ob Nikoläuse und Engel, Eiskristalle und Krippen — im oberbayerischen Diessen am Ammersee erstarrt die ganze Weihnachts-Welt zu Zinn: Vom Zentrum der deutschen Kleinzinngießerei schweben die winzigen Weihnachtsfiguren in alle Welt, sogar in den Buckingham-Palast und in den Vatikan.
Bevor der Schnee sich auftürmt und Eisblumen an den Fensterscheiben blühen, hält Weihnachten Jorge Arau (59) längst in Atem. „Nach Ostern kommt bei uns gleich der Nikolaus.“ Dann nämlich werden sie in Scharen gekauft, seine Christbäume und Weihnachtsmänner, Engel und Krippen. Arau hält eine uralte Zunft erfolgreich am Leben: Er ist Chef von Deutschlands ältester Kleinzinn-Gießerei. „Wir haben die Tradition neu belebt.“
Hinter der farbenprächtigen Gründerzeit-Fassade der familiengeführten Manufaktur blinkt ein einzigartiger Weihnachtskosmos in den buntesten Farben: Unzählige Mäuschen und Nikoläuschen, liebevoll bemalt, schmücken zwergenhafte Christbäume. In Vitrinen schimmern liliputanische Märchenschlösser, Palmen, Pyramiden und Paläste aus Tausend und einer Nacht. Meter um Meter stapeln sich die Kästen mit den stummen Geschöpfen: Rehe, Elefanten, Zebras, Tiger und Löwen, Märchenfiguren und Schlangenbeschwörer. Und immer wieder Engel: mit goldenen Flügeln, posaunend, trommelnd, die Harfe schlagend. „Weihnachten“, sagt Jorge Arau, „ist unser Hauptgeschäft.“
1970 hat der gebürtige Katalane in die Diessener Zinn-Dynastie Schweizer eingeheiratet. Eine Legende in der Zinngießer-Zunft mit über 200-jähriger Geschichte. In der Ammersee-Region, Zentrum der „Kreuzl und Bettermacher“, produzierten die Schweizers neben Zinngeschirr Devotionalien, die als Souvenirs in die Wallfahrtsorte Europas vertrieben wurden. 1850 gossen Araus Vorfahren den ersten Christbaumschmuck: Eine Weihnachtskugel als Geschenk an das bayerische Königshaus.
Heute gerät alles zur Zinn-Szene: Vom Saurier bis zur Mondlandung, von den Beatles bis zur Berliner Pommesbude, von der Striptease-Party bis zur Eisbären-Jagd. Sämtliche Figuren entwirft Arau selbst. Seine Entwürfe auf Pergament überträgt er mit Kopierpapier auf flache Schieferplatten. Danach wird mit Stichel und Schaber das Negativ-Relief eingraviert.
Auch gegossen wird noch von Hand: Mit einem Gusslöffel wird auf 400 Grad erhitztes Zinn in die doppelseitige Schiefer-Form eingefüllt. Das Metall fließt in alle Hohlräume, kühlt ab, erstarrt in Sekundenschnelle. Kaum ist die Form geöffnet, plumpst der silbrig glänzende Rohling heraus. Fertig ist der Weihnachtsmann!
Fast: Jetzt bekommt der Neugeborene noch den letzten Schliff. Er wird entgratet und poliert. Etwa ein Drittel der Weihnachtswesen verlassen als blanke Rohlinge Diessen. Jorge Arau: „Viele unserer Kunden lieben es, die Figuren selbst zu bemalen.“