Wie vom Erdboden verschluckt: Ratlosigkeit nach dem Unglück
Aus dem Erholungsgebiet „Harzer Seeland“ ist über Nacht ein Katastrophengebiet geworden. Auch am Sonntag gab es noch kein Lebenszeichen von den drei Vermissten im Alter von 48, 50 und 51 Jahren.
Nachterstedt. Riesige Erdmassen in Bewegung, zwei Häuser wie vom Erdboden verschluckt, drei Menschen vermisst: Nach dem verheerenden Erdrutsch an einem Tagebausee in Nachterstedt im Harz-Vorland herrscht in dem kleinen Ort Entsetzen, bei den Experten Ratlosigkeit.
Auch am Sonntag kann sich niemand erklären, warum ein Teil von Nachterstedt am Vortag gegen fünf Uhr in der Früh urplötzlich im künstlichen Concordia-See verschwand. Der Rutsch geschah mit solcher Wucht, dass eine Flutwelle ausgelöst wurde. Am gegenüberliegenden Ufer des Tagebaurestlochs, das gerade langsam geflutet wird, krachte der Ausflugsdampfer "Seelandperle" wie ein Spielzeug an Land.
Der sonst so beschauliche Ort in der Nähe von Quedlinburg südwestlich von Magdeburg (Sachsen-Anhalt) wurde von den Behörden zum Katastrophengebiet erklärt. Hunderte Helfer sind vor Ort: Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk, Bergamt. Krisenstäbe beraten permanent über das weitere Vorgehen.
Doch am Ende bleibt den Einsatzkräften nicht viel mehr, als das auf einer Länge von 350 Metern weggebrochene Seeufer weiträumig abzusperren. Zu groß ist die Gefahr, das weitere Erdmassen 100 Meter in die Tiefe krachen und noch mehr Menschen oder Gebäude mit sich ziehen.
Am Sonntag sind nicht einmal die abgestürzten Häuserreste in der Tiefe geortet, geschweige denn das vermisste Ehepaar und sein Nachbar gefunden. Alle sind um die 50, der See wurde für sie wohl zum Grab.
Hubschrauberflüge mit Wärmebildkameras bringen nichts, Suchhunde können nicht eingesetzt werden, auch keine Taucher - zu gefährlich. "Wir stehen mit der Bundeswehr in Kontakt", sagt Landrat Ulrich Gerstner (SPD). Kann vielleicht ein Roboter helfen?
"Dass uns so etwas ereilt, ist ganz, ganz schlimm", sagt Bürgermeisterin Heidrun Meyer. Ihre Sorge gilt neben den Angehörigen der Vermissten den etwa 40 Einwohnern, die vorerst nicht in ihre Häuser zurückkönnen. Zu nah liegen sie am Abgrund. Alles was sie momentan besitzen, tragen die am Unglückstag eilig in Sicherheit gebrachten Menschen am Leib.
"Sie sind in Ferienwohnungen untergebracht oder bei Bekannten", schildert Meyer. Einige durften sich in einer Kleiderkammer des Roten Kreuzes Sachen zum Wechseln nehmen, bekamen Gutscheine für Einkäufe - das hilft, fürs erste.
Am Abend oder am Montag sollte entschieden werden, ob sie wenigstens einige Habseligkeiten aus ihren Wohnungen in der gefährlichen Zone herausholen können. Eine schwierige Risikoabwägung. Und dann muss eine langfristige Lösung her: "Es ist derzeit nicht erkennbar, dass der Teil des Ortes in absehbarer Zeit wieder bewohnt werden kann", sagt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) sichtlich bewegt, nachdem er sich am Sonntag selbst ein Bild vom Ort der Katastrophe gemacht hat.
Über die Ursache des verheerenden Erdrutsches gibt es bislang nur Spekulationen. "Es war ein gravierendes, in dieser Form einmaliges Ereignis, das keiner eindeutig erklären kann", sagte Uwe Steinhuber, von der Gesellschaft, die für die Nachnutzung von rund 50 früheren Tagebaulöchern zuständig ist.
Klar ist, dass die betroffene Siedlung für Bergleute in den 30er Jahren auf einem Tagebaugelände errichtet wurde, das schon im 19. Jahrhundert zugeschüttet worden war. "Heute würde so etwas sicher nicht mehr genehmigt", sagt Steinhuber.
Einen kleinen Lichtblick in all dem Elend gab es am Sonntag indes noch. Der 22-jährige taubstumme Sohn eines der Vermissten, über dessen Verbleib zunächst ebenfalls nichts bekannt war, meldete sich wohlauf bei den Einsatzkräften. Von dem Unglück wusste er nichts, er hatte sich in einem Nachbardorf aufgehalten.