100 Jahre russische Revolution: Der rote Oktober, den es nicht gab

Die „Große sozialistische Oktoberrevolution“ war ein Putsch von Extremisten gegen eine demokratische Regierung.

Foto: Screenshot

Berlin/Petersburg. Der wortwörtliche Startschuss war eine Platzpatrone, die der Kreuzer „Aurora“ am 25. Oktober gegen 21.40 Uhr aus der Bugkanone über Petrograd hinwegfeuerte. Auf das verabredete Zeichen hin begannen Soldaten und bewaffnete Arbeitermilizen der Bolschewiki mit dem Sturm auf das Winterpalais, brachen das riesige eiserne Tor mit dem Adler des Zaren auf und erorberten den Palast mit seinen mehr als 1000 Zimmern. So begann die „große sozialistische Oktoberrevolution“, der „rote Oktober“ — zumindest auf der Leinwand.

Denn die Bilder, die die Erinnerung an den Beginn der angeblichen russischen Revolution bestimmen, stammen aus dem Film „Oktober“, den der Regisseur Sergei Eisenstein („Panzerkreuzer Potemkin“) erst 1928 drehte; die Filmmusik schrieb Star-Komponist Dmitri Schostakowitsch. Kleiner Schönheitsfehler: Das große Tor mit dem Adler des Zaren, das die roten Garden in Eisensteins Film heldenhaft stürmen, führte nicht zu den Regierungsräumen (am anderen Ende des Palasts), sondern zu den Pferdeställen.

In Wahrheit nahmen die Bolschewiki das Winterpalais am 7. November 1917 (Oktober nach dem damals gültigen julianischen Kalender Russlands) nahezu kampflos ein: Die Verteidiger, überwiegend Offiziersschüler, gaben auf und gingen einfach weg. Ein letztes Frauen-Bataillon der Verteidiger verabschiedete sich am Morgen nach dem „Sturm“, der in Wahrheit ein linksradikaler Putsch war — und sich nicht gegen den Zaren, sondern eine demokratische Regierung richtete.

Der ganze Putsch ereignete sich so geräuschlos, dass der US-Journalist und spätere Gründer der kommunistischen Partei der USA, John Reed (1887—1920) davon nicht einmal in Petrograd etwas mitbekam. In seinem Bericht schrieb er: „Mittwoch, 7. November. Ich hatte mich sehr spät erhoben. Vom Peter-Paul schlug bereits die Mittagsglocke, als ich den Newski hinunter schritt. Der Tag war kalt und ungemütlich. Vor den geschlossenen Türen der Staatsbank standen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. ,Wozu gehört ihr?’ fragte ich, ,zur Regierung?’ ,Die Regierung ist futsch. Slawa Bogu’ (Gott sei Dank).“

Obwohl der Anführer der bolschewistischen Machtergreifung, Wladimir Iljitsch Lenin (1870—1924), bis heute verehrt und einbalsamiert im Mausoleum des Kreml aufgebahrt liegt, will das offizielle Russland den Geburtstag der Revolution im kommenden Monat nicht so richtig feiern: Alles, was nach Revolution riecht, ist Wladimir Putin höchst suspekt, denn nichts fürchtet der russische Präsident so sehr wie eine innere Revolution nach ukrainischem Vorbild.

Der 25. Oktober ist in der heutigen russischen Föderation nicht einmal mehr ein offizieller Feiertag. Identifizieren kann sich Putin vor allem mit dem heldenhaften Kampf im „großen vaterländischen Krieg“ gegen den Hitler-Faschismus und der ruhmreichen Größe der alten Weltmacht Sowjetunion. Seine innenpolitische Dauer-Botschaft ist die Wiederauferstehung dieses Russlands, das sich von den Knien erhebt und zu alter Größe zurückkehrt — nur ohne Kommunismus, Revolution und Lenin.

Dem Gründer der Sowjetunion war dieser Nationalstolz keineswegs fremd, er machte ihn sich im Gegenteil zu nutzte: „Ist uns großrussischen klassenbewussten Proletariern das Gefühl des nationalen Stolzes fremd? Gewiss nicht! Wir lieben unsere Sprache und unsere Heimat, wir wirken am meisten dafür, dass ihre werktätigen Massen (d.h. neun Zehntel ihrer Bevölkerung) zum bewußten Leben erhoben werden, dass sie Demokraten und Sozialisten werden“, schrieb Lenin 1914. Das Problem war lediglich: Unter den werktätigen Massen hatten die Bolschewisten keine Mehrheit — und das nicht einmal am Abend des Putsches in Petrograd.

Die eigentliche, von der Mehrheit der Russen getragene Revolution, hatte sich bereits im Februar 2017 (nach westlichem, gregorianischen Kalender: März) zugetragen und die Herrschaft des Zaren für immer beendet. Schon 1905 hatte es einen blutig niedergeschlagenen Aufstand in Petrograd gegeben, aber nun im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs war das Maß voll: Das russische Reich war militärisch völlig erfolglos, die Mangelversorgung der Bevölkerung erreichte das Ausmaß von Hungersnöten, die Kluft zwischen dem obszönen Reichtum der Grund- und Fabrikbesitzer und dem Elend der Bevölkerungsmehrheit war nicht mehr zu schließen.

Nach 300 Jahren endete die Herrschaft des Romanow-Clans recht unspektakulär: Nach Hungeraufstand dankte Zar Nikolaus II. schließlich zugunsten seines Bruders Michail ab, der dankte ebenfalls ab und rief dazu auf, sich der provisorischen Regierung unterzuordnen. Die fragile demokratische Konstruktion, auf der bis zu Wahlen im Herbst die Macht lag, bestand aus einem ungeregelten Nebeneinander des Parlaments (russisch: Duma) und den „Arbeiter- und Soldatenräten“ (russisch: Sowjets). Weder in der Duma noch in den Sowjets hatten die Bolschewiki die Mehrheit. Lenin nutzte die Sowjets, um die Duma und damit die Regierung auszuschalten, deren Autorität immer unter der Bezeichnung „provisorisch“ litt, und um sich anschließend die Sowjets vorzunehmen.

Darin ließ Lenin auch gar keinen Zweifel. Im September 1917 schrieb er in aller Offenheit: „Jedoch wird die Losung ,Die Macht den Sowjets’ sehr oft, wenn nicht in den meisten Fällen, ganz falsch aufgefasst, und zwar im Sinne einer ,Regierung aus den Parteien der Sowjetmehrheit’, und auf diese von Grund aus irrige Auffassung wollen wir ausführlicher eingehen.

Eine ,Regierung aus den Parteien der Sowjetmehrheit’ bedeutet, dass ein Personenwechsel in der Regierung stattfindet, der ganze alte Apparat der Regierungsmacht aber unangetastet beibehalten wird, ein Apparat, der durch und durch bürokratisch, durch und durch undemokratisch und unfähig ist, ernsthafte Reformen durchzuführen, Reformen, die sogar in den Programmen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki enthalten sind.“

Was Lenin stattdessen vorschwebte war: „Nur die Diktatur der Proletarier und der armen Bauern ist imstande, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen, mit wahrhaft großartiger Kühnheit und Entschlossenheit die Macht auszuüben und sich die begeisterte, rückhaltlose, wahrhaft heroische Unterstützung der Massen sowohl in der Armee wie in der Bauernschaft zu sichern.“

Leonid Luks, Professor für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte, fragte 2007 zum 90. Jahrestag der russischen Revolution in einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung, ob das Scheitern der ersten russischen Demokratie wirklich auf eine Eigenart der russischen Mentalität oder einen geschichtlichen Sonderweg zurückzuführen sei. Er befand, dass Scheitern des nach der Februarrevolution errichteten Systems gehe in seinen Ursachen weit über spezifisch russische hinaus: „So fand in Russland die erste Konfrontation eines demokratischen Gemeinwesens mit einer totalitären Partei statt, die skrupellos alle Freiheiten der Demokratie ausnutzte, um diese zu zerstören.

Etwa fünf Jahre später sollte die italienische und 15 Jahre später die Weimarer Demokratie an ähnlichen Herausforderungen scheitern, und zwar mitten im Frieden und nicht im vierten Kriegsjahr, wie dies in Russland der Fall war. So hat das Scheitern der ,ersten‘ russischen Demokratie die tiefe Krise der demokratischen Systeme in Europa vorweggenommen.“ Das Problem ist in ganz Europa erneut aktuell.