11. September: Der Terror hat die USA verändert
In wenigen Tagen jähren sich die Terroranschläge vom elften September 2001, jener Tragödie, die fast dreitausend Menschenleben forderte und Amerika sowie den Rest der Welt in tiefen Schock versetzte, zum zehnten Mal. Peter DeThier ist der einzige deutsche Korrespondent, der den schicksalhaften, folgenschweren Tag in Washington live erlebte und seit 9-11 ununterbrochen in den USA lebte und berichtete. Wie sich Land, Leute und die amerikanische Gesellschaft in der vergangenen Dekade tiefgreifend verändert haben, das erzählt er in einer Serie von Artikeln und Reportagen zu "9-11: 10 Jahre danach".
Washington. Ich erinnere mich so, als wäre es gestern gewesen: Am Morgen des eflten September 2001 saß ich im Büro unseres neuen Miethauses am Stadtrand von Washington zwischen unausgepackten Kartons. Gerade am Vortag waren wir umgezogen. Ich hatte mir ein paar Tage frei genommen, um gemeinsam mit meiner Frau das neue Haus und Büro einzurichten. Im Hintzergrund lief der Fernseher. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass es ein ungewöhnlicher Tag sein würde.
Selbst, als um zehn vor neun erste Bilder eines Flugzeugs über den Bildschirm flimmerten, das gegen die Nordseite des Wolkenkratzers "WTC 1" geflogen war, dachte noch keiner an Terrorismus. 17 Minuten später, als man live sehen konnte, wie eine weitere Linienmaschine gegen den zweiten der Zwillingstürme raste, schienen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten.
Nur 12 Kilometer vom Pentagon entfernt hörten wir dann eine gute halbe Stunde später sogar in unserem Haus den immensen Knall, als Flug 77 auf den weitläufigen Komplex des amerikanischen Verteidigungsministeriums geprallt war.
Die Stunden und Tage danach waren die hektischste und emotionalste Zeit, die ich während meiner gesamten Laufbahn als Journalist erlebte. Schreiende Nachbarn rannten aus dem Haus, holten ihre Kinder aus der Schule und verbarrikadierten sich Tage lang hinter den eigenen vier Wänden. Läden sperrten zu, Schulen schlossen, Berufstätige blieben dem Arbeitsplatz fern, Metropolen glichen Geisterstädten. Amerika stand unter schwerem Shock, das Leben war zum Stillstand gekommen.
Wie die Terroranschläge auf die amerikanische Volkspsyche durchgeschlagen hatten, das bekamen wir in den anschließenden Tagen und Wochen jedenfalls mit großem Nachdruck zu spüren.
Nachdem man die Identität der 19 Flugzeugentführer kannte, wurden Menschen arabischer Herkunft nicht nur diskiminiert, sie waren Opfer einer Volkshetze. Bryan Fischer, Sprecher der konservativen American Family Association, forderte "die sofortige Ausweisung sämtlicher Muslime, die keinen amerikanischen Pass haben."
Ein republikanischer Abgeordneter aus dem Südstaat Georgia wetterte in Anspielung auf muslimische Kopfbekleidung polemisch und ebenso undifferenziert, dass "jeder, der sich in unserem Land ein Keilriemen um den Kopf bindet, verhaftet und wie ein Terrorist behandelt werden sollte."
Täglich gab es im Fernsehen neue Meldungen über die Auswüchse einer neuen Welle von Haßkriminalität: Muslime oder Menschen, die lediglich für solche gehalten wurden, wurden auf offener Straße überfallen und brutal zusammengeschlagen.
In ländlicheren Gegenden ebenso wie Großstädten kam es immer wieder vor, dass Banden von Rednecks und "white supremacists" pakistanische oder indische Taxifahrer aus dem Fahrersitz zerrten und übel zurichteten.
Besonders bedrückend war an diesem kollektiven Hass, dass er von einem Volk und einer Hand voll dessen gewählter Vertreter im Kongress und einigen Landesparlamenten versprüht wurde, die seit mehr als zwei Jahrhunderten immer stolz auf Amerika als eine Nation der Einwanderer zurücblicken.
"Wir haben uns selbst verraten" lamentiert der Soziologe Michael Setera. "Die live Bilder der einstürzenden Zwillingstürme und der Gedanke, dass so etwas in Amerika passieren kann, haben uns so tief ins Mark getroffen, dass Amerikaner vergaßen, wer sie in Wirklichkeit sind, nämlich ein aufgeschlossenes, gastfreundliches und weltoffenes Volk."
Die Anschläge hatten aber auch zu einer noch nie dagewesenen Verunsicherung und Verängstigung geführt. Der Vermögensverwalter Tom Eckert, dessen Sohn gemeinsam mit unserem damals 8-jährigen Oliver auf einer Fußballmannschaft spielte, erzählte mir dass "meine Frau mich nicht mehr fliegen lässt. Ich habe mehrere Dienstreisen absagen müssen und wichtige Kunden verloren."
Tom berichtete von Kollegen, die in Chikago oder New York in Hochhäusern arbeiteten und seit den Anschlägen sich geweigert hatten, wieder ins Büro zu gehen.
Auch zehn Jahre später, daran kann kein Zweifel bestehen, ist die angeknackste Volkspsyche immer noch nicht geheilt und wird sich womöglich nie vollständig erholen. Zwar sind Haßverbrechen deutlich weniger geworden, auch sind viele Politiker, allen voran Präsident Obama bemüht, Muslime verstärkt zu integrieren. Doch viele Vorurteile bestehen weiter und die Angst vor möglichen Anschlägen wird wohl für alle Ewigkeit in das kollektive Bewusstsein der Amerikaner gemeißelt sein.
Während die breite Masse sich von Fernsehbildern, Medienberichten und einer kollektiven Paranoia treiben ließ, trugen Politiker ihren Teil dazu bei, dass in dem nicht mehr annähernd so unbekümmerten, unkomplizierten und aufgeschlossenen Amerika die neue Verschlossenheit sowie eine langsame aber sichere Abkehr vom Rechtsstaat institutionalisiert wurden.
Am 26. Oktober, sechseinhalb Wochen nach den Anschlägen in Washington und New York, verabschiedeten das Repräsentantenhaus und der Senat einen 342 Seiten umfassenden Gesetzestext, von dem fast alle später zugaben, ihn garnicht gelesen zu haben.
Das "Patriotengesetz" sollte zwar im Zeichen der nationalen Sicherheit stehen, diente letzlich aber der Regierung ebenso wie den Geheimdiensten und dem Militär als bequemer Vorwand, um sich über den amerikanischen Rechtsstaat hinwegzusetzen. Es wurden Telefonate unschuldiger Zivilisten abgehört, sogenannte "feindliche Kämpfer" ohne konkrete Beweise inhaftiert und Personen ohne US-Pass von vielen Behörden wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Die simple Eröffnung eines Bankkontos wurden wegen des großen Misstrauens für nicht-Amerikaner zu einem demütigenden Ritual.
Auch bereitete das Patriotengesetz, das zudem einem Blankoscheck für ex-Präsident Bushs Muskelspiele in der militärischen Arena glich, den Weg für jenen Irakkrieg, von dem selbst viele Republikaner heute sagen, er hätte nie stattfinden sollen.
Auch entstand das notorische "Ministerium für Heimatschutz", ein bürokratischer Koloss, dessen Existenzberechtigung in dem Kampf gegen internationalen Terrorismus besteht, das aber zwischenzeitlich die verschiedensten Lebensbereiche erfasst: Teilweise absurde Sicherheitskontrollen am Flughafen sowie flackernde Leuchttafeln auf amerikanischen Autobahnen, die Fahrer auffordern, bei "verdächtigem Verhalten" anderer Autofahrer sofort vom Handy aus eine gebührenfreie "Anti-Terrornummer" anzurufen.
Zehn Jahre nach 9-11 ist Amerika eine veränderte Nation. Das Selbstverständnis der angeblichen Unantastbarkeit gehört der Vergangenheit an. Man ist misstrauisch und weniger offen.
Das Land hat einen wichtigen Teil jener Identität verloren, die es zumindest in den Augen sowohl der Gründerväter als auch vieler Patrioten und Politiker der heutigen Generation zur "größten Nation auf dem Erdball" aufsteigen ließ.