Ukraine 29. September vor 75 Jahren: Der Massenmord von Babi Jar
Am Donnerstag jährt sich das Massaker von Kiew zum 75. Mal, bei dem Deutsche am 29. und 30. September 1941 in zwei Tagen 33 771 Juden töteten. Der Befehlshaber war ein Solinger SS-Mann.
Solingen/Kiew. Als die Offiziere der 6. Armee und die SS-Führer der „Einsatzgruppe C“ sich am 26. September 1941 zu einer Besprechung bei Generalmajor Kurt Eberhard trafen, hatten die mobile Mord-Einheit der Nazis und die Wehrmacht das gemeinsame Töten tausender Juden schon monatelang eingeübt. Entsprechend schnell waren sich Wehrmacht und SS mit Stadtkommandant Eberhardt einig, was als Vergeltung für russische Sprengfallen in der Kiewer Innenstadt zu tun sei: möglichst viele Juden umbringen. Am besten alle.
Nur 72 Stunden später hatte das „Sonderkommando 4a“ unter dem Befehl des Solinger SS-Standartenführers Paul Blobel innerhalb von zwei Tagen „einen Mord-Rekord aufgestellt, den nicht einmal ein Vernichtungsexperte wie der KZ-Kommandant Rudolf Höß in Auschwitz zuwege brachte“, wie der „Spiegel“ 1967 schrieb. Das zweitägige Massaker von Babi Jar stellte alle anderen dokumentierten Massenmord-Aktionen des rassistischen Vernichtungskriegs in den Schatten, der am 21. Juni mit dem Überfall auf die Sowjetunion begonnen hatte.
Die 6. Armee ließ von ihrer Propagandakompanie 637 in Kiew ein mehrsprachiges Plakat formulieren, drucken und verteilen, das alle Juden aufforderte, sich am 29. September 1941 bis 8 Uhr morgens an einer Straßenkreuzung neben zwei Friedhöfen einzufinden: „Mitzubringen sind: Papiere, Geld, Wertsachen sowie warme Kleidung.“ Wer dem nicht Folge leiste, werde erschossen. Durch ukrainische Milizen ließ die SS verbreiten, die Juden sollten umgesiedelt werden.
Paul Blobel plante eine Mordaktion, wie er sie seit dem Beginn des Vernichtungskrieges immer wieder durchgeführt hatte: Unterstützt von Wehrmacht, Polizei und ukrainischen Freiwilligen, würden die 150 Mitglieder seines Sonderkommandos 4a die Juden zusammentreiben und dann systematisch in kleinen Gruppen erschießen.
Vom 22. Juni bis 29. Juli 1941 hatten sie bei Schitomir 2531 Menschen getötet. Zwischen dem 27. und 29. Juni bei Sokal und Lutsk „300 Juden und 317 Kommunisten“, am 2. Juli weitere 1160 Juden in Lutsk. Vermutlich im Juli in Fastow „alle Juden im Alter zwischen 12 und 60 Jahren“, 30 bis 50 Juden nahe Zwiahel, im August und September nochmals 3145 jüdische Männer, Frauen und Kindern bei Schitomir.
All das hatte Blobels mobile Mord-Einheit fein säuberlich für Einsatzgruppen-Berichte an das Reichssicherheitshauptamt aufgeschrieben, die US-Soldaten nach dem Krieg im Berliner Gestapo-Hauptquartier fanden.
Innerhalb der Wehrmacht stieß Blobels Möderbande nur einmal auf Widerstand: Im August 1941 erschoss eine Abteilung seines Kommandos die jüdische Bevölkerung in der Ortschaft Bjelaja Zerkow etwa 80 Kilometer vor Kiew; 70 Frauen und Männer. Obersturmführer August Häfner war jdeoch unschlüssig, was mit etwa 90 Kindern geschehen sollte, und sperrte sie am Ortsrand ohne Verpflegung ein. Schließlich schaltete sich ein Oberstleutnant aus dem Generalstab der 295. Infanteriedivision ein.
Blobel wehrte den Rettungsversuch ab und beschwerte sich bei Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, dem Oberbefehlshaber der 6. Armee. Am 22. August hoben Soldaten die Leichengrube aus und führten die 90 Kinder dorthin, ukrainische Milizionäre übernahmen die Erschießung. Der zögerliche SS-Mann Häfner gehörte vier Wochen später zu den Teilnehmern der Besprechung zur Ermordung der Kiewer Juden.
In einem Verfahren vor dem Darmstädter Landgericht beschwerte er sich später über die Arbeitsteilung zwischen Wehrmacht und SS: „Wir mussten die Drecksarbeit machen. Ich denke ewig daran, dass der Generalmajor Eberhard in Kiew sagte: ,Schießen müsst ihr!’“
Vor allem bedeutete es, dass gewöhnliche Soldaten ab 1941 systematisch in den rassistischen Völkermord verstrickt wurden. Genralfeldmarschall von Reichenau und Blobel, beide fanatische Antisemiten, standen häufig in persönlichem Kontakt. Von Reichenau gab nach dem Massaker von Babij Jar einen in der Wehrmacht vielfach kopierten Befehl an die Soldaten der 6. Armee heraus, in dem er verlangte, sie müssten „für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben“.
Am Morgen des 29. September hatte Paul Blobel zunächst ein ganz anderes Problem: In der Ereignismeldung an Berlin heißt es, obwohl man „zunächst nur mit einer Beteiligung von 5000 bis 6000 Juden gerechnet hatte, fanden sich über 30 000 Juden ein, die infolge einer überaus geschickten Organisation bis unmittelbar vor der Exekution noch an ihre Umsiedlung glaubten“. Wehrmachtssoldaten und zwei Polizei-Bataillone wurden abgestellt, um die Wege aus der Innenstadt von Kiew zur „Babij Jar“-Schlucht in der Nähe des Flusses Dnjepr abzusperren.
Unter den Augen der Bevölkerung zogen 30 000 Männer, Frauen und Kinder mit all ihrer Habe, mit Handwagen, Koffern und Säcken aus der Stadt zu ihrer Ermordung. Einer der Lkw-Fahrer, der das geraubte Eigentum der Ermordeten abtransportieren sollte, schilderte später vor Gericht, wie ukrainische Kollaborateure die Juden binnen einer Minute entkleideten, verschiedene Haufen aus ihren Habseligkeiten bildeten und die Nackten dann zur Schlucht trieben.
Die „Babij Jar“-Schlucht sei gut 15 Meter tief gewesen, so der Fahrer. Die Juden seien durch zwei oder drei schmale Eingänge hinunter geschleust worden: „Wenn sie am Rande der Schlucht ankamen, wurden sie von Beamten der Schutzpolizei ergriffen und auf bereits erschossene Juden gelegt. Dies ging alles sehr schnell. Die Leichen wurden regelrecht geschichtet. Sowie ein Jude dalag, kam ein Schütze von der Schutzpolizei mit der Maschinenpistole und erschoss den daliegenden durch Genickschuss. Die Juden, die in die Schlucht kamen, waren von dem Anblick dieses grausigen Bildes so erschrocken, dass sie vollkommen willenlos waren“, sagte der Kraftfahrer aus.
Einer der Mörder, der Zugwachtmeister Kurt Werner, sagte 1947 im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess aus: „Die nachfolgenden Juden mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet. Mir ist heute noch in Erinnerung, in welches Entsetzen die Juden kamen, die oben am Grubenrand zum ersten Mal auf die Leichen in der Grube hinunterblicken konnten. Viele Juden haben vor Schreck laut aufgeschrien.“
Offenbar war es nicht so, dass Werner seine Beteiligung am Massenmord kalt ließ. Im Gegenteil. Er empfand Mitleid. Jedoch nicht mit den Opfern, sondern mit sich, dem Täter: „Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Nervenkraft es kostete, da unten diese schmutzige Tätigkeit auszuführen. Es war grauenhaft. Ich musste den ganzen Vormittag über unten in der Schlucht bleiben“, so Werner.
Blobel sagte 1947 ebenfalls zu dem Massaker von Babij Jar aus und schilderte im Verhör durch Staatsanwalt Benjamin Ferencz, dass die zu Ermordenden keinen Widerstand geleistet hätten. Blobel: „Das war also so bei denen, da galt eben ein Menschenleben nichts gewissermaßen. Entweder hatten die Leute an sich schon irgendwelche Erfahrungen oder sie erkannten ihren inneren Wert nicht.“
Er könne nicht sagen, ob sie glücklich in den Tod gegangen seien, aber: „Sie wussten, was ihnen bevorstand, das ist ihnen eröffnet worden, und sie haben sich in ihr Schicksal gefügt. Und das ist die Eigentümlichkeit dieser Menschen da im Osten.“ Mitgefühl hatte Blobel nur mit den Tätern: „Ich muss sagen, dass unsere Männer, die daran teilgenommen haben, mehr mit ihren Nerven runter waren als diejenigen, die dort erschossen werden mussten.“
Blobel wurde 1948 vor dem Nürnberger Militärgerichtshof II wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verletzung der Kriegsgesetze und -gebräuche sowie der Mitgliedschaft in den verbrecherischen Organisationen SS und SD für schuldig befunden und zum Tod durch den Strang verurteilt. In der Urteilsbegründung führte Richter Richard D. Dixon Blobels Aussage an: „Das Opfer wird als unmenschlich hingestellt, während der Henker bemitleidet wird. Der Ermordete ist schuldig und der Mörder ist im Recht. Der Mensch, der alles hergeben muss — sein Leben — , ist ein undankbarer Mensch und der Henker ist der Dulder.“ Damit sei der Mord, so Dixon, „noch von einer verbrecherischen Frechheit“ begleitet gewesen.
Nachdem die Bundesrepublik 1949 die Todesstrafe abgeschafft hatte, wurden die letzten Todesurteile des US-Militärtribunals am 7. Juni 1951 im Gefängnis Landsberg durch Erhängen vollstreckt. Blobels letzte, unbelehrbare Worte sollen gewesen sein: „Nun haben mich Disziplin und Treue an den Galgen gebracht.“