Strafrechtsprofessor kritisiert Amri-Gutachten: Rechtsstaat ging nicht an seine Grenze

Regensburger Strafrechtsprofessor hat die Ermittlungen untersucht. Er sagt, die Gesetze reichten aus, wurden nur nicht streng angewendet.

Henning Ernst Müller berichtet am Freitag im Landtag.

Foto: FDP-Fraktion

Düsseldorf. Die FDP im Düsseldorfer Landtag hat ein eigenes Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, um das Vorgehen der NRW-Behörden gegen den Berlin-Attentäter Anis Amri zu bewerten. Seine Ergebnisse hat Henning Ernst Müller, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg, am Freitag vorgelegt. Und die sind differenziert: Dem Gutachten nach gab es keinen sicheren Weg, Amri aus dem Verkehr zu ziehen und den Anschlag von Dezember zu verhindern. Aber an seine Grenzen, wie von Innenminister Ralf Jäger (SPD) behauptet, sei der Rechtsstaat ebenso wenig gegangen.

Dass die Liberalen ausgerechnet Müller als Gutachter erkoren, ist kein Zufall: Er äußerte schon früh, dass es im Fall Amri kein Rechts-, sondern ein Vollzugsdefizit gegeben habe. Dennoch gibt der Wissenschaftler Jägers Ministerium zunächst in einem viel diskutierten Punkt Recht: Eine Abschiebungsanordnung, die dem Schutz vor gefährlichen Personen dienen soll, aber hohe Hürden vorsieht, hätte vor dem Bundesverwaltungsgericht wohl keinen Bestand gehabt. „Es ist eine absolute Ausnahmenorm“, sagte Müller bei der Präsentation des Gutachtens im Landtag.

Eine Ausweisungsverfügung indes hätte nach der Ablehnung des Asylantrags von Anis Amri erlassen werden und als Grundlage für weitere Maßnahmen dienen können, so der Professor. Etwa für strenge Meldeauflagen. So hätte die Ausländerbehörde ihm eine tägliche Meldepflicht auferlegen können. Ebenso einen festen Aufenthaltsort, „um eine intensive Reisetätigkeit, wie sie Amri an den Tag legte, zu unterbinden“, heißt es im Gutachten. Und diese Reisen hätten ja vermutlich der Vorbereitung des Anschlags in Berlin gedient.

Müller glaubt aber auch, dass man konsequenter hätte versuchen können, den 24-jährigen Tunesier hinter Gitter zu bringen — in Abschiebe- oder in Untersuchungshaft. Von Jägers Behörde hatte es zuvor geheißen, man habe nicht davon ausgehen können, dass die für eine Ausweisung notwendigen Papiere aus Tunesien innerhalb von sechs Monaten vorliegen — und länger darf die Abschiebehaft nicht dauern. Dem widerspricht der Regensburger Forscher: Spätestens nach der Bestätigung von Amris Staatsbürgerschaft durch Interpol Tunis im Oktober sei die Ausstellung der Papiere in greifbarere Nähe gerückt und somit auch die Chance, mit einer Verhaftung vor einem Richter Erfolg zu haben.

Darüber hinaus hätten aber auch die verschiedenen Straftaten, die Amri zur Last gelegt wurden — von Leistungsbetrug über Urkundenfälschung bis zu Drogendelikten —, gebündelt in einem Verfahren und mit der Fluchtgefahr des sehr mobilen Mannes für einen Untersuchungshaftbefehl reichen können. Von wem der Impuls für eine solche Bündelung hätte kommen müssen, vermag Müller indes nicht zu sagen: „Ich weiß nicht konkret, wo die Versäumnisse lagen.“

Was er weiß, ist das Ende der Geschichte: „Man hatte den Ball nicht mehr im Auge“, bedient sich der Wissenschaftler einer Sportvokabel. Obwohl Amri als Gefährder bekannt und immer wieder straffällig gewesen sei, habe der Rechtsstaat seine Möglichkeiten nicht „mit der nötigen Präzision“ genutzt. Bevor man über Gesetzesänderungen nachdenke, müsse man aber genau dafür Sorge tragen.

FDP-Fraktionsvize Joachim Stamp nannte Jägers Darstellung, der Rechtsstaat sei im Fall Amri an seine Grenzen gegangen, vor dem Hintergrund des Gutachtens „grob fahrlässig“. Sie vermittle den Eindruck, der Staat sei nicht wehrhaft. Stamp forderte noch einmal die Einsetzung eines Sonderermittlers durch die Parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen. Aus der Staatskanzlei hieß es am Freitag, es gebe zu dem Verfahren noch keine Entscheidung, die Gespräche liefen.