Analyse: Libyen zwischen Euphorie und Angst
Tripolis/Berlin (dpa) - Der Diktator untergetaucht, die Hauptstadt Tripolis weitgehend eingenommen: Die libyschen Rebellen feiern ihren Sieg über das Regime von Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi. Doch die überschäumende Freude könnte bald herber Ernüchterung weichen.
Denn Libyens Opposition gleicht einem bunt zusammengewürfelten Zweckbündnis. Darüber hinaus drohen der staatlichen Kommandowirtschaft schmerzhafte Reformen. Besonders groß ist die Furcht vor einem Rachefeldzug an Gaddafis Anhängern.
Es ist viel zu früh zu sagen, wohin die Reise in Libyen geht. Wird es ein demokratisches Land, oder setzen sich jene Kräfte durch, die am liebsten die islamische Rechtsprechung, die Scharia, einführen wollen? Werden die Einnahmen aus dem Ölexport gerecht verteilt, oder sitzen künftig nur andere an den Geldtöpfen? Wird in Libyen Stabilität einziehen, oder begleichen die Stämme alte Rechnungen? Libyen ist Anrainer des Mittelmeeres, und für die Europäer stellt sich die Frage: Werden Terrorgruppen aus dem Norden Afrikas das Machtvakuum in Libyen ausnutzen und einen „sicheren Hafen“ schaffen, von dem aus sie operieren können?
Die Gründung des neuen Libyens gleicht einer Herkulesaufgabe. Wohin man sieht, überall gibt es mehr Fragezeichen als Antworten, mehr Baustellen als Fundamente, auf denen man aufbauen kann. Libyen unter Gaddafi war ein Sonderfall in der arabischen Welt. Offiziell bezeichnete sich das Land als Volksdemokratie. Die Macht sollte vom sogenannten Volkskongress und den Volkskomitees ausgehen. De facto herrschten aber Gaddafi und sein Clan vier Jahrzehnte lang.
Auf den Trümmern dieser Diktatur muss jetzt eine völlig neue Ordnung mit einer Verfassung, einem Parlament und unabhängiger Justiz entstehen. Politische Parteien und Oppositionsgruppen waren 1972 verboten worden. Erfahrung mit Demokratie gibt es seitdem nicht.
Die Opposition einte das kurzfristige Ziel, den Diktator zu stürzen. Sie könnte aber in der Zeit nach Gaddafi im Streit über die langfristigen Ziele sowie politische Absprachen und Posten gesprengt werden, warnt die Forschungsstelle des US-Kongresses.
Wer sind die Sieger, die Gaddafi stürzten? „Die derzeitige Opposition in Libyen, angeführt vom Nationalen Übergangsrat in Bengasi, ist ein Mischmasch aus ehemaligen regimetreuen Mitgliedern, liberalen Demokraten, Islamisten, Auslandslibyern, (Angehörigen der) Berber, verschiedenen Stämmen und Gotteskriegern“, schreibt das US-Zentrum für strategische und internationale Studien (CSIS).
Den Rebellen haben sich allerdings auch Mitglieder der libyschen Islamistengruppe LIFG angeschlossen. Zahlreiche Mitglieder dieser Gruppe orientieren sich ideologisch am Terrornetzwerk Al-Kaida.
Der Übergangsrat ist bislang für den Westen Repräsentant des libyschen Volkes und damit offizieller Ansprechpartner. Im März hatte sich der Rat darauf festgelegt, eine Demokratie aufzubauen. Diese soll auf Rechtsstaatlichkeit, der Einhaltung von Menschenrechten sowie Gewaltlosigkeit basieren.
Die Frage ist nur, ob dieser Rat künftig das ganze Land repräsentieren kann. Unklar sei beispielsweise, ob und wie sich das Bündnis mit den Gaddafi-treuen Kräften in der Hauptstadt Tripolis arrangieren könne, schreibt der renommierte Council on Foreign Relations (CFR). Bislang gebe es auch keinen politischen Führer, hinter dem sich alle Libyer scharen könnten.
Viele Experten hoffen, dass Libyen nicht das gleiche Schicksal droht wie dem Irak. Der ist auch acht Jahre nach dem Sturz von Ex-Diktator Saddam Hussein nicht zur Ruhe gekommen. Werden beispielsweise Angehörige von Gaddafis Armee und Sicherheitskräften das neue System sabotieren?
Besonders groß ist die Angst vor einem Blutbad. Jene, die während der Gaddafi-Zeit Angehörige oder Eigentum verloren haben, könnten sich an jenen rächen, die das Regime jahrzehntelang gestützt haben, analysiert der CFR. Riesiges Konfliktpotenzial berge auch jene halbe Million libyscher Flüchtlinge und Vertriebener, die ihr früheres Eigentum zurückverlangen könnten.
Und möglicherweise gibt es eine weitere Parallele zu den Umbruchtagen im Irak. Nach dem Vorbild der Spezialeinheiten Saddams könnten Gaddafi-Getreue Chaos in Ministerien und der Zentralbank säen. Die Mitarbeiter von Geheimdiensten könnten Dokumente vernichten, damit sie einer Strafverfolgung entkommen.