Fall Anis Amri Analyse: Nutzte Verfassungsschutz Amri als Köder?
Düsseldorf · Die Verstrickung des Geheimdienstes in den Fall wird mehr und mehr zum Thema. Auch in Düsseldorf. Ein Rück- und ein Ausblick auf die Arbeit des Untersuchungsausschusses.
Landesinnenminister, Bundesinnenminister, NRW-Verfassungsschutzchef, Generalbundesanwalt – der erste Parlamentarische Untersuchungsausschuss (Pua) zum Fall Anis Amri und dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Düsseldorfer Landtag erlebte im Frühjahr 2017 einen prominenten Reigen im Zeugenstand. In der heißen Phase des Wahlkampfs stand die Arbeit unter dem Vorzeichen von Schuldzuweisung und -zurückweisung statt Aufklärung. Die Einsetzung des zweiten Pua nach der Wahl erfolgte geräuschloser, ebenso das erste Jahr seiner Arbeit. Diese dürfte aber durch die jüngsten Enthüllungen, dass der Verfassungsschutz möglicherweise näher an dem Attentäter dran war als bislang bekannt, in diesem Monat Fahrt aufnehmen. Eine Mitarbeiterin des Bundesamtes für Verfassungsschutz hatte im Bundestags-Untersuchungsausschuss vergangene Woche gesagt, dass sie im Januar 2016 begonnen habe, Informationen über Amri in einer „Personenakte“ zu sammeln.
„Es könnte noch mal Schwung in die Sache kommen“, glaubt Moritz Körner, FDP-Obmann im Düsseldorfer Pua. Nach der Wahl war für die Mitglieder des zweiten NRW- Ausschusses zu Anis Amri wirklich nach der Wahl. „Wir haben uns in die Augen geguckt und gemeinsam eine Arbeitsbasis gefunden“, schildert Daniel Sieveke (CDU) gegenüber dieser Zeitung. Der Ausschuss sei nach dem Regierungswechsel von einem Kampf- zu einem echten Arbeitsinstrument geworden, bestätigt Andreas Kossiski von der SPD: „Wir versuchen, gemeinsam Licht ins Dunkel zu bringen.“ Das sei in diesem ersten Jahr bis jetzt „sehr intensiv“ geschehen.
Zeugen aus den Ausländerbehörden haben die Pua-Mitglieder gehört, Menschen, die Amri aus der Flüchtlingsunterkunft in Emmerich kannten – die ausländerrechtliche Zuständigkeit für den Tunesier lag durchgehend in NRW; auf dieser Ebene hat der Untersuchungsausschuss breite Informationen erlangt, wie es in der Flut von Fällen seinerzeit passieren konnte, dass die Alias-Identitäten des späteren Attentäters zunächst unerkannt blieben. Widerlegt ist inzwischen durch Zeugenaussagen die These, Amri habe sich erst in Deutschland radikalisiert. Monika Düker, Obfrau der Grünen: „Er ist als Überzeugungstäter und Salafist eingereist.“ Die entscheidende Frage zu dieser Erkenntnis laute: „Was haben die Sicherheitsbehörden damit gemacht?“
Im Januar 2017 – kurz nachdem Amri auf dem Breitscheidplatz zwölf Menschen getötet und viele weitere verletzt hatte – hatte die Bundesregierung erklärt, im Umfeld des Tunesiers seien keine V-Leute des Bundesamtes für Verfassungsschutz eingesetzt gewesen. In den vergangenen Wochen nun gab es immer wieder Enthüllungen um einen V-Mann in der Berliner Fussilet-Moschee, die auch Amri besuchte – und Medienberichte über Versuche der Verfassungsschützer, dessen Existenz geheimzuhalten. „Warum vertuscht der Verfassungsschutz, dass er überhaupt an ihm dran war?“, fragt sich FDP-Mann Körner. „Dann muss er eine größere Rolle gespielt haben.“
Wie weit die Geheimdienste in den Fall verstrickt sind, ist offen
Bekannt ist schon lange, dass Amri als „Nachrichtenmittler“ in dem Mammutverfahren der „Ermittlungskommission Ventum“ geführt wurde, welche das Umfeld des Hasmespredigers Abu Walaa beleuchtet hat. Der irakische Hassprediger und die mutmaßliche Nummer eins des IS in Deutschland steht derzeit vor Gericht. Schon Anfang vergangenen Jahres keimte in NRW der Verdacht auf, man habe Amri an der langen Leine laufen lassen, um Erkenntnisse im Ventum-Verfahren zu erlangen oder durch Kontakte des Tunesiers zum IS und nach Libyen an größere Fische zu kommen. „Ich habe das im ersten Pua jeden gefragt“, sagt Düker. „Immer war die Antwort Nein.“
Ob das die Wahrheit ist, soll sich nun im Untersuchungsausschuss zeigen. Zentrales Problem bleibt, dass der Generalbundesanwalt die Ventum-Akten mit Verweis auf das laufende Verfahren unter Verschluss hält. Nicht nur bei ihm beißen die NRW-Aufklärer auf Granit. „Die Bundesbehörden sind sehr vorsichtig bei der Herausgabe ihrer Akten“, sagt SPD-Obmann Kossiski. Auch gibt es, so hört man aus Kreisen der Ausschussmitglieder, aus den Sitzungen im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ), bei denen kein Gefährder 2016 so oft Thema war wie Amri, nur reine Ergebnisprotokolle – aber keinen Aufschluss, wer am Tisch saß und wessen Einschätzung letztlich dafür sorgte, dass die Gefährlichkeit des Tunesiers weiter und weiter herabgestuft wurde. War es der Verfassungsschutz, der ihn als Köder nicht verlieren wollte? In den kommenden Monaten (die erste Sitzung nach der Sommerpause ist am heutigen Montag) werden es vor allem Zeugen aus diesen Behörden, Ermittler des LKA etwa, sein, die dem Pua Amri in Düsseldorf Rede und Antwort stehen. „Ich gehe davon aus, dass wir in NRW in die entscheidende Phase kommen“, sagt Sieveke von der CDU.
Innerhalb des kommenden Jahres wollen die Pua-Mitglieder zu einem Abschluss gelangen. Einige von ihnen meinen, die Verstrickung der Geheimdienste nähmen eine Dimension an wie beim NSU. Letztlich wird die Frage wohl lauten: Hat man Amri trotz aller Erkenntnisse falsch eingeschätzt – oder haben die Sicherheitsbehörden seine Gefährlichkeit erkannt, ihn als Köder benutzt und im entscheidenden Moment doch aus dem Augen verloren? „In beiden Fällen haben sie ein Problem“, sagt Monika Düker (Grüne). Körner von der FDP glaubt, man müsse „über die Sicherheitsarchitektur in Deutschland generell nachdenken“. Dass ein Gremium wie das GTAZ selbst mit einem Pua als dem „härtesten parlamentarischen Schwert“ nicht kontrollierbar sei, könne nicht angehen.