Mehr Stimmen als in der Türkei Integrationsdebatte nach Erdogans Kantersieg in Deutschland
Berlin/Istanbul (dpa) - Der hohe Wahlsieg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei der Abstimmung in Deutschland hat eine neue ntegrationsdebatte ausgelöst.
Der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte das Wahlverhalten der Türken in Deutschland scharf. „Die feiernden deutsch-türkischen Erdogan-Anhänger jubeln nicht nur ihrem Alleinherrscher zu, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus. Wie die AfD eben“, sagte der Bundestagsabgeordnete der Deutschen Presse-Agentur. „Das muss uns alle beschäftigen.“
Union und FDP machten ebenfalls Versäumnisse bei der Integrationspolitik aus. Die Linke gab der Bundesregierung eine Mitschuld an dem Wahlergebnis, weil sie Erdogan mit ihrer Außenpolitik gestärkt habe. Die Türkische Gemeinde warnte allerdings vor Pauschalkritik an den Erdogan-Wählern in Deutschland.
Der türkische Präsident hatte bei der Wahl in Deutschland fast zwei Drittel der Stimmen erhalten und damit deutlich mehr als zu Hause in der Türkei. Allerdings gab nur etwa jeder Zweite seine Stimme ab. Nach Auszählung von 100 Prozent der Stimmen kam Erdogan nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in Deutschland auf 64,78 Prozent - bei einem Gesamtergebnis von 52,59 Prozent. Damit ließ er seinen Hauptkonkurrenten Muharrem Ince von der linksliberalen Oppositionspartei CHP mit 21,88 Prozent bei den Deutschtürken klar hinter sich.
Bei der Wahl des neuen türkischen Parlaments erhielt Erdogans islamisch-konservative AKP in Deutschland mit 55,69 Prozent sogar die absolute Mehrheit. Ihr Gesamtergebnis lag nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen dagegen nur bei 42,56 Prozent. Sie ist damit auf ein Bündnis mit der ultranationalistischen MHP angewiesen. Erdogan hatte auch schon bei früheren Abstimmungen deutlich mehr Rückhalt bei den Türken in Deutschland als bei denen zu Hause.
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte dazu: „Das lässt Rückfragen auch zu über die Frage, inwieweit es wirklich in der Vergangenheit gelungen ist, dass sich diese Bürgerinnen und Bürger vor allen Dingen und in erster Linie auch als deutsche Staatsbürgerinnen und Bürger fühlen und weniger als türkische.“
Die Türkische Gemeinde in Deutschland rief aber zur Zurückhaltung bei der Kommentierung des Wahlergebnisses auf. „Ich rate dringend davon ab, die deutschtürkischen Wähler Erdogans als Anti-Demokraten zu diffamieren“ sagte der Gemeinde-Vorsitzende Gökay Sofuoglu dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Deutsche Politiker machen es sich zu leicht, wenn sie Erdogans Anhänger in Deutschland als Integrationsverweigerer abstempeln. Sie sollten selbstkritisch nach ihrem eigenen Anteil daran fragen, dass eine seit Jahrzehnten in Deutschland lebende Gruppe im Staatschef eines anderen Landes ihren Anführer sieht.“
Auch die von türkischen Migranten abstammende Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen sieht die Bundesregierung klar in der Mitverantwortung für das Erdogan-Ergebnis. „Diejenigen, die das kritisieren, haben jahrelang Erdogan und seine Regierungspartei AKP hier in Deutschland hofiert“, sagte sie dem Fernsehsender n-tv. „Die Bundesregierung unterstützt Erdogan seit Jahren (...). Man lässt auch sein Netzwerk hier in Deutschland seit Jahren gewähren.“
Die Linken-Bundestagsfraktionschefin Sahra Wagenknecht forderte den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. „Jetzt müssen Rüstungsexporte, EU-Beitrittsverhandlungen & Finanzhilfen endlich gestoppt werden“, schrieb sie auf Twitter.
Auch der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff plädiert nach dem Wahlsieg Erdogans für ein Ende des EU-Beitrittsprozesses für die Türkei. „Die Türkei hat mit dem Verfassungsreferendum und dieser vorgezogenen, undemokratischen Wahl ganz klar signalisiert, dass sie kein Mitglied der Europäischen Union sein will“, sagte Lambsdorff in Berlin im Namen der FDP-Bundestagsfraktion. Denkbar sei stattdessen ein Grundlagenvertrag für eine weniger enge Form der Partnerschaft.
„Unserer Aufforderung an die Bundesregierung ist, sich im Rat der Europäischen Union jetzt endlich dafür einzusetzen, dass dieser Schritt gegangen wird“, sagte Lambsdorff. „Die Menschen sowohl in Deutschland, als auch in vielen anderen europäischen Ländern erwarten, dass der Beitrittsprozess beendet wird.“