Reportage aus Irland vor dem Brexit „Da wird dem Schwein nur Lippenstift aufgetragen“

Dublin · Die bürgerkriegsgeplagten Iren sorgen sich gemeinsam um Frieden und Wohlstand – Eine harte Brexit-Grenze wird strikt abgelehnt.

Ein Straßenschild mit der Aufschrift «Willkommen in Nordirland» steht am Straßenrand an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland.

Foto: dpa/Peter Morrison

Ein Denkmal an der Kingsmillroad im Grenzgebiet zwischen Nordirland und der irischen Republik erinnert an zehn protestantische Arbeiter, die hier 1976 von der IRA aus ihrem Kleinbus gezerrt, aufgereiht und erschossen wurden. Die Landschaft ringsum ist so lieblich und sattgrün, dass es fast schon wie ein Hohn wirkt. Ein paar hundert Meter weiter steht an einer Straßenkreuzung ein Großplakat: „No hard border“. Keine harte Grenze. Vielerorts entlang der 499 Kilometer langen Grenze protestieren Menschen gegen das, was da in vier Wochen zu kommen droht. Im Norden, wie im Süden. Es scheint, als schweiße der Brexit die einstigen Gegner zusammen.

Die Grenze sieht man schon lange nicht mehr. Oft erinnert nur der Wechsel des Straßenbelages daran, wo Großbritannien beginnt und Irland endet. Güter und Menschen bewegen sich an den fast 300 „Übergängen“ so selbstverständlich hin und her wie heute zwischen Frankreich und dem Saarland. In Armagh arbeitet ein paritätisch besetzter Nord-Süd-Rat an der weiteren Verzahnung der Region. Straßen, Wasserwege, die Tourismuswerbung, das Gesundheitswesen. 270 Millionen Euro hat die EU bisher für die Projekte beigesteuert.

Irlands Außenminister Simon Coveney äussert die Sorge, „dass Irland der Kollateralschaden des Brexit wird“. Die Regierung im Süden befürchtet, dass eine feste Grenze sofort attackiert werden würde. Denn dass es keine Trennlinie zwischen Nord und Süd mehr gibt, war vor 21 Jahren für die katholische Seite zentral, um dem so genannten Karfreitagsabkommen zuzustimmen. Neben der gemeinsamen EU-Mitgliedschaft. Beides könnte jetzt entfallen - und damit die Geschäftsgrundlage für den Friedensprozess. Befürchtet wird zudem, dass sich Attacken auch gegen Menschen oder ihre Häuser richten könnten, etwa gegen Grenzpolizisten. Es gibt entsprechende Hinweise. Dann wäre man schnell wieder bei dem alten Kreislauf von Gewalt und Rache, dem einst auch die zehn Arbeiter in der Kingsmillroad zum Opfer fielen.

Markus Grimmeisen, der seit 13 Jahren als Deutscher in Dublin lebt und dort neben seinem EU-Job ehrenamtlicher Kirchenvorstand der lutheranischen Kirche ist, sagt: „Das ist hier eine ganz dünne Schicht. Da braucht es wenig.“ In Belfast, Nordirlands Hauptstadt, kann man das sehen. Da werden die Viertel der Religionsgemeinschaften noch immer durch hohe Zäune getrennt. Auf der einen Seite wehen unionistische Flaggen, auf der anderen die der Republik Irland. Graffiti erinnern an die jeweiligen „Helden“ der damaligen „troubles“. Ein beschönigendes Wort angesichts der 3500 Kriegstoten. In der Stadt gibt es ein EU-gefördertes Programm, das Jugendliche beider Seiten zusammen führt. Ein protestantisches Mädchen sagt, es habe vorher noch nie mit einem Katholiken gesprochen. „Die sind eigentlich genau wie wir.“

Ein Auslöser für neue Unruhen könnte auch in der Wirtschaft liegen. Die in den letzten Jahren äusserst erfolgreiche Republik Irland kann einen harten Brexit zwar halbwegs wegstecken. Die Arbeitslosigkeit würde von fünf auf sieben Prozent ansteigen, das Wachstum sich vorübergehend halbieren, erwarten Gewerkschaften wie Unternehmensverbände. Schwer getroffen würde jedoch die Landwirtschaft, die stark nach Großbritannien exportiert. Bei möglichen Zöllen von 20 bis 30 Prozent wäre sie nicht mehr konkurrenzfähig. „Rindfleisch ist bei einem harten Brexit tot“, formuliert Bauernverbandspräsident Joe Healy ganz unverblümt. Molkereiprodukte würden ebenfalls erhebliche Einbussen erleiden. Es gäbe viele Arbeitslose. Vor allem in den ländlichen Gegenden entlang der Grenze. Dort, wo Frust schon früher schnell in Gewalt umschlug. Healy hält auch nichts davon, die Zollkontrollen im Hinterland stattfinden zu lassen, wie die Briten neuerdings erwägen. „Da wird dem Schwein nur Lippenstift aufgetragen“. Er will, wie die meisten Iren, überhaupt keinen Brexit. Und wenn es ihn dann doch geben muss, dann in einer dauerhaften Zollunion mit Nordirland. Ohne Grenze.

Im Norden denken viele genauso. Ein harter Brexit könnte sogar, sagen Experten in Belfast, dazu führen, dass man auch in Nordirland sich vom Vereinigten Königreich abwendet und mittelfristig die Vereinigung mit dem Süden sucht. Beim Referendum vor drei Jahren war eine Mehrheit der Nordiren gegen einen Austritt. Die Bauern dort leben zu über 80 Prozent von EU-Beihilfen, die bei einem harten Brexit entfallen würden. Und auch die Zentren fürchten Einbußen. Der Belfaster Stadtrat Gary McKeown, ein Sozialdemokrat, glaubt, dass seine Stadt künftig gegenüber Dublin bei Investoren klar im Nachteil sein wird. Weil Dublin sowohl englischsprachig als auch EU-Standort sei. Sein Bürgermeister John Finucane von der katholischen Sinn Fein-Partei schildert, wie erfolgreich die Stadt in den letzten Jahren gewesen ist, zum Beispiel bei der Ansiedlung von IT-Firmen im Bereich Cyber-Sicherheit. Jetzt sei er sehr besorgt. Die ganze irische Insel fühlt sich durch den Brexit ausgebremst. Bei ihrem Friedensprozess und bei ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Am wichtigsten sei für ihn aber, fügt Bürgermeister Finucane hinzu, dass es „endlich Klarheit gibt“.