Schalit und Hunderte Palästinenser frei
Tel Aviv/Gaza (dpa) - Blass, nahezu gespenstisch abgemagert, aber überglücklich: Nach mehr als fünf Jahren in den Händen der radikal-islamischen Hamas ist der israelische Soldat Gilad Schalit frei.
„Natürlich habe ich meine Familie am meisten vermisst, aber auch meine Freunde“, bekannte der sichtlich aufgeregte 25-Jährige in einem ersten Interview mit dem ägyptische Fernsehen. Im Zuge des größten Gefangenenaustauschs im Nahen Osten seit einem Viertel Jahrhundert Jahren entließ Israel die ersten 477 von 1027 palästinensischen Häftlingen in die Freiheit. Jubel, Freudenschüsse und Tränen auch bei deren Familien im Gazastreifen und im Westjordanland.
Politiker weltweit zeigten sich erleichtert nach der Freilassung Schalits. Wie bei Bundeskanzlerin Angela Merkel mischte sich in die Freude auch die Hoffnung auf baldige Fortschritte im Nahost-Friedensprozess. Nach 13 Monaten Eiszeit wollen sich Israel und die Palästinenser am 26. Oktober erstmals wieder zu indirekten Friedensgesprächen mit Hilfe eines Vermittlers treffen.
Als der 25-Jährige erstmals nach 1941 Tagen Gefangenschaft am Dienstagabend wieder in seinen Heimatort Mizpe Hila zurückkehrte, bildeten tanzende und singende Menschen ein Spalier. Israel durchlebte am Dienstag einen der größten emotionalen Momente seiner Geschichte. Und dann übertrug das Fernsehen die mit großer Spannung erwarteten ersten Bilder des Freigelassenen. Schalit lächelte, wirkte aber scheu. Die Augenringe waren nicht zu übersehen, ebenso die eingefallenen Wangen und die schlackernde Uniform. Dennoch war der freigelassene Soldat nach Angaben der israelischen Armee insgesamt bei guter Gesundheit.
Die Armee hat ihm wegen seiner langen Geiselhaft den Status eines Kriegsinvaliden verliehen. Er muss nie wieder dienen. Abgeschirmt von der Öffentlichkeit soll sich der junge Mann jetzt in seinem idyllischen Heimatort Mizpe Hila erholen.
Gilad Schalits Vater Noam bedankte sich am Abend bei der Regierung und der Öffentlichkeit. „Wir hoffen, dass er zu einem normalen Leben zurückfinden kann“, sagte er. „Es ist, als ob unser Sohn wiedergeboren worden wäre“, beschrieb er die Gefühle der Familie nach der Heimkehr des heute 25-Jährigen. „Gilad fühlt sich gut.“ Allerdings brauche sein Sohn jetzt Schonung. „Erlaubt es ihm, so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückzukehren“, appellierte er an die Journalisten.
Vor einer Woche habe er erfahren, dass er freigelassen werden solle, sagte Gilad Schalit. Zuvor hätten ihn Ängste geplagt, dass er noch viele Jahre in Gefangenschaft verbringen müsste. Schalit dankte Ägypten für die Bemühungen zu seiner Freilassung. „Ich glaube, die Ägypter waren in ihrer Vermittlung erfolgreich, weil sie sowohl zur Hamas als auch zu Israel gute Beziehungen haben.“
In der Stunde großer Erleichterung dankte Israels Präsident Schimon Peres auch dem deutschen Vermittler Gerhard Konrad für dessen Einsatz. „Sie haben unter schwierigen Bedingungen in einer komplexen Umgebung auf professionelle, kluge und ausdauernde Weise Verhandlungen geführt“, bescheinigte Peres.
Nach seiner Freilassung telefonierte Schalit von einem Militärstützpunkt an der Grenze zu Ägypten erstmals wieder mit seinen Eltern. Erst später konnten Aviva und Noam Schalit ihren lange vermissten Sohn auf dem Militärflughafen Tel Nov im Zentrum des Landes wieder in die Arme schließen. „Willkommen in Israel, Gilad. Wie gut, dass du zurückgekommen bist“, sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der Regierungschef wandte sich dann an die Eltern: „Ich habe euch euer Kind zurückgebracht.“
Israel hatte am Montag zunächst 477 palästinensischen Gefangene an Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) übergeben. In zwei Monaten sollen 550 weitere Palästinenser freikommen, die Israel aber selbst aussuchen kann.
Jubel, Tränen und Freudentriller auch im Gazastreifen und im Westjordanland. Mehr als 100 000 Menschen drängten sich allein in Gaza um eine riesige Bühne. Ismail Hanija, Anführer der im Gazastreifen herrschenden Hamas, bezeichnete den Häftlingsaustausch als „historischen Sieg“. In Ramallah küsste Palästinenserpräsident Mahmud Abbas überschwänglich Ex-Häftlinge, die über einen provisorischen Übergang bei Rafat ins Westjordanland gekommen waren. Nach Jahren abgrundtiefer Feindschaft zur Hamas trat Abbas erstmals wieder gemeinsam mit einem Hamas-Führer auf.
Israelische Gerichte hatten die jetzt freigelassenen Palästinenser wegen der Beteiligung an Terroraktionen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Netanjahu warnte die ehemaligen Häftlinge, sich an neuen Gewalttaten gegen Israelis zu beteiligen: „Wer zum Terror zurückkehrt, muss die Konsequenzen tragen“, sagte er.
Die Rückkehr Schalits löste auch international Erleichterung aus. Bundeskanzlerin Merkel hofft nach der Freilassung nun auf neue Bewegung im Nahost-Friedensprozess. Er hoffe, „dass dieser Gefangenenaustausch den Frieden ein Stück näher bringen wird“, sagte britische Premierminister David Cameron.
Das Weiße Haus in Washington begrüßte die Freilassung Schalits. „Wir freuen uns, dass Herr Schalit wieder mit seiner Familie vereinigt ist“, sagte Regierungssprecher Jay Carney. „Wir haben lange seine Freilassung gefordert.“ UN-Generalsekretär Ban Ki Moon nannte den Gefangenenaustausch einen „bedeutenden humanitären Durchbruch“, der sich hoffentlich positiv auf die festgefahrenen Nahost-Friedensgespräche auswirken werde.
Beobachter befürchten, das dies nicht der letzte Austausch sein wird. Die im Gazastreifen herrschende radikal-islamische Hamas hat Israel bereits damit gedroht, immer wieder „neue Schalits“ zu entführen, bis die Tore der Gefängnisse hinter den letzten Palästinensern zuschlügen .