Keine Entspannung in Sicht Biden stuft Gefahr eines russischen Einmarschs in die Ukraine als sehr hoch ein

Moskau/Washington · Die Konfliktparteien in der Ostukraine beschuldigen sich gegenseitig der Eskalation. Die UNO ruft zur Zurückhaltung auf.

US-Präsident Joe Biden stufte die Gefahr eines russischen Einmarsches in die Ukraine als "sehr hoch" ein.

Foto: dpa/Patrick Semansky

Im Ukraine-Konflikt zeichnet sich keine Entspannung ab. US-Präsident Joe Biden stufte die Gefahr eines russischen Einmarsches in die Ukraine am Donnerstag als "sehr hoch" ein. Moskau bekräftigte, weiterhin auf dem Abzug sämtlicher US-Soldaten aus Ost- und Mitteleuropa zu bestehen. Der von Russland angekündigte Abzug von Truppen entlang der Grenze zur Ukraine wurde vom Westen zunächst nicht bestätigt. Washington und London warfen Moskau vielmehr eine weitere Aufstockung vor.

Ein Angriff könne in den "kommenden Tagen" erfolgen, sagte Biden in Washington. So habe die Regierung in Moskau entgegen ihrer Ankündigung keine Soldaten von der Grenze zur Ukraine abgezogen, sondern vielmehr zusätzliche Soldaten dorthin verlegt. Der US-Präsident erneuerte auch den Vorwurf, Russland wolle mit einem fingierten Angriff einen Vorwand für einen Einmarsch schaffen: "Wir haben Grund davon auszugehen, dass sie eine Operation unter falscher Flagge ausführen."

Auf die Frage, ob Russland einen Angriff durchziehen werde, antwortete Biden: "Ja. Mein Gefühl ist, dass es in den kommenden Tagen passieren wird." Im nächsten Satz sagte der US-Präsident aber, ein diplomatischer Ausweg sei nach wie vor möglich. Allerdings habe er derzeit keine Pläne für ein erneutes Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Biden hatte den russischen Präsidenten wiederholt vor einem Einmarsch in die Ukraine gewarnt und für den Fall eines Angriffs massive Sanktionen angedroht. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) drohte Russland erneut mit Sanktionen. "Wenn es zu einer militärischen Aggression gegen die Ukraine kommt, dann wird das Konsequenzen haben", sagte Scholz nach einem Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel.

Sollten die USA nicht die geforderten Sicherheitsgarantien geben, wäre Moskau "gezwungen zu reagieren, einschließlich mit militärisch-technischen Mitteln", hieß es unterdessen in einer schriftlichen Antwort des russischen Außenministeriums auf ein Schreiben aus Washington.

Eine von Russland verlangte Verzichtserklärung der Nato auf eine weitere Osterweiterung sowie den Abzug von US-Waffen aus Staaten der früheren sowjetischen Einfluss-Sphäre lehnen Washington und die Nato ab. Sie schlugen aber Gespräche über weitere Themen wie Rüstungskontrolle, gegenseitige Besuche sensibler Infrastruktur und Diskussionen über die russischen Sicherheitsbedenken vor.

Russland wies unterdessen den stellvertretenden Leiter der US-Botschaft in Moskau aus. Die Ausweisung des Spitzendiplomaten Bart Gorman sei "ohne Grund" erfolgt und stelle einen "Schritt der Eskalation" dar, erklärte das Außenministerium in Washington.

Derweil beschuldigten sich die ukrainische Armee und die pro-russischen Kämpfer in der Ostukraine gegenseitig, die Gewalt in dem Konfliktgebiet eskalieren zu lassen. Die Kommandozentrale des ukrainischen Militärs erklärte, von Russland unterstützte Kämpfer hätten das Dorf Stanyzia-Luhanska mit schwerer Artillerie beschossen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte auf Twitter, er habe EU-Ratspräsident Charles Michel über den "provokativen Beschuss" informiert. Selenskyj betonte jedoch, dass sein Land keine Soldaten von Verbündeten in der Ukraine brauche. "Andernfalls würde die ganze Welt destabilisiert werden."

Die pro-russischen Separatisten in Luhansk beschuldigten ihrerseits die Ukraine der Eskalation. "In den vergangenen 24 Stunden ist die Situation an der Kontaktlinie erheblich eskaliert", sagte ein Vertreter der selbsternannten Volksrepublik Luhansk laut russischen Nachrichtenagenturen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete die Berichte über die eskalierenden Kämpfe als "besorgniserregend". Es gebe zwar keine Gewissheit, "aber wir haben gesehen, dass versucht wurde, einen Vorwand zu inszenieren, um eine Invasion der Ukraine zu rechtfertigen".

Eine weitere Eskalation der Lage dürfe nicht zugelassen werden, sagte die Untergeneralsekretärin der Vereinten Nationen, Rosemary DiCarlo, in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates zur Ukraine-Krise. "Wir fordern alle Seiten auf, in dieser sensiblen Zeit maximale Zurückhaltung zu üben."

Der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine schürt im Westen seit Monaten die Sorge, Russland könnte einen Großangriff auf das Nachbarland vorbereiten. Russland bestreitet jegliche Angriffspläne auf die Ukraine, gibt aber an, sich von Kiew und der Nato bedroht zu fühlen.

(AFP)