Debatte um Lockerung der Maßnahmen Leben oder die Wirtschaft schützen?
Düsseldorf · Der Ruf nach einem Ende des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Stillstands wird schon wenige Tage nach Inkrafttreten der neuen Regeln lauter. Die Debatte „Wirtschaft gegen Leben“ ist im vollem Gange.
„Zeit ist Geld“, sagte einmal Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA. Und konnte sich dabei nicht (alp-) träumen lassen, wie viel Geld die Staaten dieser Welt einmal ausgeben würden, um eben damit Zeit im Kampf gegen das Coronavirus zu kaufen: zwei Billionen US-Dollar sind es allein in den USA, 750 Milliarden Euro in Deutschland. Staatliches Geld, mit dem die Zeit des Shutdown, des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herunterfahrens, überbrückt werden soll. In der Hoffnung auch, dass in dieser gekauften Zeit die Medizin, die Forscher Mittel finden, um der Covid-19-Pandemie etwas entgegenzusetzen. Wenn schon kein Impfstoff auf die Schnelle, so doch vielleicht ein Medikament, um die schlimmsten Folgen abzumildern. Zeit für die Gesundheitssysteme, sich auf den kaum vermeidbar scheinenden und in vielen Ländern längst eingetretenen Ansturm schwer erkrankter Patienten vorzubereiten. Zeit, um die Überlastung der Systeme bei zu vielen gleichzeitig Erkrankten zu verhindern.
Doch diese Zeit sei viel zu teuer erkauft, heißt es nun von einem lauter werdenden Chor. Der Preis sei schon jetzt zu hoch und werde weiter steigen. Nur eine Zahl an dieser Stelle: Jede weitere Woche „Shutdown“ koste in Deutschland mindestens 35 Milliarden Euro an entgangener Produktion, sagt Jens Südekum, Volkswirtschaftsprofessor an der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf.
Die Jungen „durchseuchen“ und die Alten isolieren
Was in den USA in eher drastischen Worten formuliert wird, wird bei uns zwar etwas vorsichtiger gesagt, doch die Forderung ist schon nach nur wenigen Tagen des Social Distancing, des Abstandhaltens, die gleiche. Der 69-jährige Vizegouverneur von Texas, Dan Patrick, hatte so für ein Zurückkehren zur Arbeit plädiert: „Diejenigen von uns, die über 70 sind, werden uns um uns selber kümmern, aber nicht das Land opfern.“ Natürlich sagt hierzulande niemand, man solle „lieber die Wirtschaft als Opa retten“. Doch der Ruf wird lauter, es sollten nicht alle, sondern nur die Risikogruppen – ältere und gesundheitlich vorbelastete Menschen – besonders geschützt beziehungsweise in die Isolationspflicht genommen werden.
Und die Jüngeren könnten schnell wieder zurück ins gesellschaftliche Leben. So könne eine „Durchseuchung“ der Gesellschaft geschafft werden, für die dann diejenigen sorgen, die bei einer Infektion nicht so gefährdet sind, schwer zu erkranken. Wenn sich auf diese Weise 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert und die Krankheit durchgemacht habe, sei aufgrund der damit geschaffenen Herdenimmunität schon ohne einen entsprechenden Impfstoff das Ziel erreicht: Das Virus verbreitet sich nicht weiter.
Auch Nida-Rümelin will vor allem Gefährdete schützen
Ein Mann der Wirtschaft, Finanzmanager Alexander Dibelius, begründete sein Plädoyer für ein solches Vorgehen im „Handelsblatt“-Interview mit einer rhetorischen Frage: „Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden, mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstands massiv und nachhaltig erodiert?“ Der „nahezu diskussionslose und mit dem zusätzlichen moralischen Zeigefinger implementierte kollektive Shutdown der Wirtschaft und des Sozialwesens“ mache ihm jedenfalls mehr Angst als die Virusinfektion.
Auch der Münchner Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin, der einst in der Regierung Gerhard Schröder (SPD) Kulturstaatsminister war, forderte im Podcast „Der achte Tag“: „Unsere Hauptaufgabe ist, jetzt die Gefährdeten konsequent zu schützen. Und dann können wir in den nicht gefährdeten Bereichen die Menschen wieder in das normale Leben entlassen.“
Shutdown führt zu mehr als nur wirtschaftlichen Schäden
Eine Argumentation, die zwischen Gefährdeten und nicht Gefährdeten unterscheidet, ist freilich gewagt. Virologen wie der allgegenwärtige Christian Drosten von der Berliner Charité weisen darauf hin, dass an Covid-19 Menschen jeden Alters erkranken und sterben können, auch wenn die Wahrscheinlichkeit für schwere Verläufe und Todesfälle bei älteren und vorbelasteten Menschen höher sei. Bei einer Lockerung der Maßnahmen und einer damit stark steigenden Infektionsrate steige nicht nur die Zahl der Erkrankten, sondern auch das Risiko für die Vulnerablen, für die leichter Verwundbaren. Hier müssten dann stärkere Isolationsmaßnahmen erfolgen. Das wiederum, so steht zu erwarten, würde zu einer weiteren Vereinsamung und psychischen Folgeerkrankungen von Menschen führen, die ohnehin oft schon wenig gesellschaftliche Kontakte haben.
Man müsste auch die jungen Menschen fragen
Die Befürworter eines schnellen Ende des Shutdowns halten dagegen: Auch die aktuell alle Bürger betreffenden Isolationen forderten jenseits der immensen wirtschaftlichen Schäden weitere Opfer: Todesfälle durch Depressionen, durch Verarmung. Das Zusammenleben auf engstem Raum ohne Ausweichmöglichkeiten führe zu mehr häuslicher Gewalt. Schließlich drohten soziale Verwerfungen, politische Aufruhre. Der schon zitierte Finanzmanager Dibelius sagt es so: „Bei uns streitet man sich bislang wenigstens nur übers Klopapier. In den USA haben nach wenigen Tagen Hamsterkäufe in den Waffenshops begonnen. Das heißt doch, dass die Leute schon mit Diebstählen, Plündereien und Schusswaffengebrauch auf offner Straße rechnen.“
Als der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) jetzt darauf hinwies, dass letztlich niemandem geholfen sei, „dass wir auf unabsehbare Zeit alle in Quarantäne nehmen, auch diejenigen, denen an sich keine Gefahr droht, die aber ganz besonders von den Folgen eines Shutdowns betroffen sein werden“, da antwortete ihm ein zorniger Olaf Lehne. Der CDU-Landtagsabgeordnete attackierte den Oberbürgermeister für dessen Worte, dass sich „der überwiegende Teil der kritischen Krankheitsverläufe auf einen Personenkreis beschränken dürfte, der einen kleinen Bruchteil der Gesamtbevölkerung ausmacht“. Lehne stellte die rhetorische Gegenfrage: „Alles halb so schlimm, weil das Virus nur die Alten und Kranken tötet?“
Auch Kölns parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reger warnt davor, in dieser Situation verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen: alt gegen jung, krank gegen gesund. Es sei zynisch und falsch, nur den Risikogruppen die Verantwortung zu überlassen, sich nicht zu infizieren. Und Virologe Christian Drosten weist darauf hin, dass man doch nicht einfach sagen könne: Jetzt infizieren wir einzelne Bevölkerungsgruppen durch. Die hätten doch im Zweifel auch noch ein Mitspracherecht, ob sie sie sich so einem Risiko – jede Infektion birgt schließlich auch Gefahren für Folgeschäden – überhaupt aussetzen wollen. Und eben das müssten sie, wenn es bald wieder hieße: Zurück in die Geschäfte, in die Fabriken, in die Schulen, in die Unis. Da könnte sich dann niemand entziehen.
Was aber bleibt dann? Weiter so wie in den vergangenen Tagen? Wochenlang? Und dabei auf eine langsame Ausbreitung setzen, so dass die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht überlastet werden? Da könnte es lange dauern, bis die Herdenimmunität von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung erreicht ist. Doch gibt es ja auch die Hoffnung, dass mit fortschreitender Zeit die Medizin zu Lösungen kommt. Und man sich eben bis dahin die Zeit kauft.
Abwägung Wirtschaft gegen Leben ist nicht einzigartig
Wirtschaft gegen Leben – wie sich welche Maßnahme auswirkt, welche Strategie im Endeffekt weniger Opfer fordert, kann derzeit niemand seriös beurteilen. Deutschland hat sich wie viele andere Länder für eine radikale Strategie entschieden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) appellierte am Freitag, dem eingeschlagenen Weg eine Chance zu geben. Die drastischen Maßnahmen seien schließlich erst seit Montag in Kraft. Da sei noch nicht der Zeitpunkt, über Lockerungen zu sprechen. Der Appell zum Abwarten ist richtig. Doch über das Für und Wider und die Aufrechterhaltung oder Veränderung der gewählten Strategie nachzudenken – das ist wichtig und geboten in einer Zeit, in der schon zahlreiche Grundrechte der Menschen eingeschränkt sind.
Uwe Volkmann, Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie in Frankfurt, beschrieb schon vor ein paar Tagen den wachsenden Druck, der auf der Politik lasten wird: „Niemand will aus dem gegenwärtigen Alptraum in einem Trümmerfeld erwachen, in dem ganze Wirtschaftszweige, eine Vielzahl von Unternehmen und massenhaft individuelle berufliche Existenzen vernichtet sind.“ Man werde irgendwann eine Entscheidung treffen müssen, welche Maßnahmen mit welcher Intensität und über welchen Zeitraum aufrechterhalten werden können. So ganz einzigartig sei im Übrigen auch die jetzt diskutierte Abwägung von Gesundheit und Leben einerseits und Wohlstand und gesamtwirtschaftlicher Nutzen andererseits nicht.
Auf der Internet-Plattform verfassungsblog.de schreibt der Jurist: „Wir wissen, dass die Zulassung des Autoverkehrs auf unseren Straßen jedes Jahr den Tod von 3000 bis 4000 Menschen zur Folge hat. Diese Folge ist so kausal wie vorhersehbar, sie trifft oft die Schwächsten wie die Kinder, und wir könnten sie ohne Weiteres abwenden, wenn wir Autos verbieten würden. Aber wir tun es nicht, weil ihre Produktion uns wirtschaftlichen Wohlstand garantiert, der Austausch von Transport von Gütern ermöglicht wird und wir individuelle Mobilität schätzen.“