Die offene Wunde Lockerbie

Der Attentäter wird als Held empfangen. London fürchtet um den Ruf Schottlands.

London. Es waren Bilder, wie sie in Großbritannien und in den USA niemand sehen wollte. Ein verurteilter Massenmörder wird in Libyen von jubelnden, Fahnen schwenkenden Menschen empfangen. Die Empörung über die Begnadigung des krebskranken Lockerbie-Attentäters verstärkte sich durch diese Szenen eines "Helden-Empfangs" noch mehr.

Das Bild reißt vor allem bei den Angehörigen der 270 überwiegend amerikanischen Opfer alte Wunden erneut auf: Abdel Bassit Ali Mohammed al-Megrahi (57) reiste als Attentäter im Jogginganzug in Glasgow ab. In seiner Heimat Libyen erschien er im Anzug, zwar immer noch gebrechlich, dafür aber wie ein Nationalheld gefeiert.

"Unangemessen", "erschütternd" und "widerwärtig" nannten Politiker und Angehörige in Großbritannien den Empfang. Im Zentrum der Kritik steht aber auch die schottische Regierung. Justizminister Kelly MacAskill hatte al-Megrahi begnadigt, damit dieser in Freiheit sterben darf.

Der Libyer saß acht Jahre seiner lebenslangen Strafe ab, die er für den Bombenanschlag auf die US-Fluglinie PanAm vor 21 Jahren über dem schottischen Ort Lockerbie bekam. Er beteuerte stets seine Unschuld, und es gab auch immer wieder Zweifel an dem Urteil. Dennoch regte sich Unmut. Die britische Zeitung "Daily Telegraph" nannte die Freilassung eine "unnötige Brüskierung Amerikas". Schottland habe vor der Supermacht mit seiner "kleinen Faust" wedeln wollen.

Viele Parlamentarier fürchten nun um den Ruf des britischen Landesteils, der seit jeher seine Unabhängigkeit von der Regierung in London unter Beweis stellen will - und nun ein Urteil zu fällen hatte, das vielen eine Nummer zu groß erschien. Die schottische Regierung habe einen "Fehler von internationalem Ausmaß" gemacht, kritisierte der Abgeordnete David Mundell. Immerhin hatten sich am Vortag sowohl US-Präsident Barack Obama sowie Außenministerin Hillary Clinton über die Entscheidung beschwert.

Andere unterstützten das Urteil. Auch ein Mensch, der wegen solch einer Gräueltat verurteilt wurde, dürfe nicht von den Kriterien für eine Begnadigung ausgeschlossen werden, sagte der ehemalige britische Botschafter in Libyen, Richard Dalton. MacAskill habe eine "schwierige, aber richtige" Entscheidung getroffen.

Von der britischen Regierung kam zu dem ganzen Fall auffallend wenig. Sie wiederholte ein ums andere Mal, dass nicht sie, sondern die Schotten für das Urteil verantwortlich seien. "Absolut überhaupt keinen Einfluss" habe London auf die Entscheidung gehabt, betonte Außenminister David Miliband. Gleichzeitig musste er sich gegen Vorwürfe wehren, wonach Wirtschaftsinteressen Großbritanniens im ölreichen Libyen zu der Freilassung beigetragen hätten. Dies sei eine "Verunglimpfung seiner selbst und der Regierung", sagte er.

Lob kam von Libyen. Seif al-Islam al-Gaddafi, der Sohn und mögliche Nachfolger des umstrittenen libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi, zeigte sich erfreut über die Freilassung und dankte den "Freunden der britischen Regierung". Fraglich bleibt, ob sich die britische Regierung angesichts aller Kritik darüber freuen wird.

Der britische Premier Gordon Brown hatte Libyen dazu aufgerufen, nach der Freilassung des Lockerbie-Attentäters "Sensibilität" zu zeigen. Brown hatte das libysche Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi gebeten, mit Zurückhaltung auf die Ankunft von Abdel Bassit Ali Mohammed al-Megrahi in seiner Heimat zu reagieren, teilte die britische Regierung am Freitag in London mit. Brown habe einen Brief bereits vor der Freilassung des 57-Jährigen geschrieben.

Der Jubel-Empfang hat derweil auch weitere Konsequenzen: Das britische Königshaus erwäge nun, einen Besuch von Prinz Andrew in Libyen abzusagen, berichtete der Sender BBC. Der Sohn der Queen sollte eigentlich im September in das Land reisen, um den Handel zu fördern. Der Prinz war schon zuvor mehrmals in Libyen. Es wurde spekuliert, dass diese Handelsreisen etwas mit der Freilassung von al-Megrahi zu tun hatten.