Die (Un-)Freiheit der Parlamentarier
Formal sind die Abgeordneten nur ihrem Gewissen unterworfen. Das gilt aber nicht immer.
Berlin. Blitzartig wurde die Notbremse gezogen. Der Entrüstungssturm, der sich gegen das geplante Redeverbot für Abweichler im Bundestag aufgebaut hatte, wurde von den Fraktionsspitzen abgeräumt.
Alles sei nicht so gemeint gewesen, versicherten die Zuchtmeister von CDU/CSU, FDP und SPD. Natürlich sollten auch künftig Stimmen im Plenum zu Wort kommen, die nicht die gerade gültige Meinung in der eigenen Partei wiedergäben. Die Vorschläge aus dem Geschäftsordnungsausschuss, der die ganze Aufregung ins Rollen gebracht hatte, wurden einkassiert — und auch der Plan, das Vorhaben schon in der nächsten Woche durchs Parlament zu peitschen.
Als vorläufiger Sieger in der Auseinandersetzung kann sich Parlamentschef Norbert Lammert fühlen. Der Christdemokrat hatte sich den Zorn der eigenen Fraktionsspitze zugezogen, weil er vor der Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm im Herbst 2011 zwei Abweichler von CDU und FDP fünf Minuten reden ließ.
Eigentlich kann sich Lammert mit seiner Position juristisch auf der sicheren Seite fühlen. In Artikel 38 des Grundgesetzes heißt es über die Abgeordneten eindeutig: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Aber so völlig frei sind die Mitglieder des Bundestags dann doch nicht. Schon seit Jahrzehnten versuchen die Fraktionsspitzen mit allen möglichen Mitteln, eigene Abgeordnete davon abzuhalten, abweichende Positionen im Plenum zu Protokoll zu geben. Für die einen ist das normale Fraktionsdisziplin, für andere schlichtweg Fraktionszwang. Wer öfter ausschert, muss mit Sanktionen rechnen — etwa bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr aufgestellt oder bei der Vergabe von Posten übergangen zu werden.
Die Befürworter einer strikten Fraktionsdisziplin argumentieren, damit werde die Arbeitsfähigkeit des Parlaments gesichert. So stellte der bei den Grünen ausgetretene Abgeordnete Thomas Wüppesahl 1990 vom Rednerpult aus an einem Tag 460 Änderungsanträge, was die Parlamentsverwaltung völlig überforderte.