EU-Notruf für vermisste Kinder
Staaten sollen Anlaufzentrale für Entführungsopfer schaffen.
Cannes. Im Juni verschwindet die sechsjährige Victoria Schmitt auf dem Bahnhof im französischen Tourcoing. Ihr Onkel steht am Schalter nach Fahrkarten an, als das blonde Mädchen entwischt. Er wendet sich an die Polizei, die ein Alarmsystem aktiviert.
Sofort gehen Warnrufe auch an die benachbarten Länder heraus, mit Foto und Beschreibung des Mädchens. Mehrere Zeugen melden sich, wenige Stunden später nimmt die Polizei in Rotterdam einen Mann fest, der die kleine Victoria bei sich hat; das Mädchen ist wohlauf.
Das Beispiel soll deutlich machen, wie erfolgreich europäische Warnsysteme arbeiten. Gestern sahen sich die 27 EU-Justizminister während ihres Treffens im französischen Cannes das Video zu der Übung an, die französische Behörden vor einigen Wochen zusammen mit den Benelux-Ländern organisiert hatten. Aufgeschreckt auch von dem Fall der Britin Madeleine McCann, die vor mehr als einem Jahr in Portugal verschwand, will die EU die Suche nach vermissten Kindern vereinfachen.
Seit Monaten wirbt die EU-Kommission deshalb für einen europaweiten Notruf. "Wenn ein Kind vermisst wird, sind die ersten Stunden danach essenziell", sagt Vizepräsident Jacques Barrot.
Doch vor allem Deutschland sperrt sich gegen ein System, das automatisch Meldungen an Polizei und Medien in der ganzen EU aussendet. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) fürchtet eine Reizüberflutung. Ein neues zentrales System sei nicht notwendig, weil die Suche nach vermissten Kindern in Deutschland sehr gut funktioniert. In Deutschland gebe es "die beruhigende Gewissheit, dass die ganz überwiegende Zahl der Kinder nach zwei bis drei Tagen wieder nach Hause kommt".
Nach Angaben der "Initiative Vermisste Kinder" gehen 100 000 Anzeigen pro Jahr bei der Polizei ein. Der Großteil klärt sich innerhalb weniger Stunden oder Tage auf. Nun werden alle EU-Staaten aufgefordert, eine zentrale Anlaufstelle für Entführungsfälle zu schaffen, an die sich die Kollegen aus den EU-Staaten im Entführungsfall wenden können - eine Lösung, mit der auch Zypries leben kann. Geeignet sei das Bundeskriminalamt, sagt sie.