Nachruf Helmut Kohl — der unvollendete Deutsche

Als Bundeskanzler erreichte Helmut Kohl mehr, als die Deutschen ihm zugetraut hätten. Und er fiel tiefer, als er es verstehen konnte.

Einheit: Helmut Kohl winkt der fahnenschwenkenden Menge zu.

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Berlin. Im Dezember 1999, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, vernichtete Helmut Kohl sein politisches Nachleben in einer einzigen Fernsehsendung: Der abgewählte Bundeskanzler hatte beschlossen, in einem ZDF-Interview mit Claus Kleber die Flucht nach vorn anzutreten. Er räumte ein, in den Jahren 1993 bis 1998 zwischen 1,5 und zwei Millionen D-Mark in bar als Spenden angenommen zu haben. Er habe die Spenden nicht angegeben, „weil die Spender ausdrücklich darum gebeten haben. Und ich habe nicht die Absicht, deren Namen zu nennen, weil ich mein Wort gegeben habe“, sagte Kohl und stellte sich damit vor der Fernsehnation über das Gesetz.

Kohl mit seiner neuen Frau Maike Kohl-Richter

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Im Laufe seiner politischen Karriere ist Helmut Kohl viel Unrecht getan worden, er war Zielscheibe ungerechten Spotts und grober Unterschätzung. Seine Darstellung als „Birne“, als trotteliger Provinzheini aus Oggersheim und pfälzischer Saumagen-Vertilger, wurde ihm in keiner Weise gerecht. Vor allem linke Kabarettisten, Karikaturisten und Intellektuelle arbeiteten sich an Kohl ab. Sein schauderhaftes Englisch gaben sie als Blödheitsbeleg aus, seinen Körperumfang als geistige Dickleibigkeit, seine Dialekt-gefärbte Sprache als geistige Einschränkung.

Kohl gilt als der Ziehvater der heutigen Kanzlerin Angela Merkel.

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Der Einzige, den sie damit nicht überraschten, war Helmut Kohl. Wenige Wochen vor seiner Wahl zum CDU-Bundesvorsitzenden, der er dann 25 Jahre lang blieb, hielt Kohl eine Rede vor der Katholischen Akademie Trier mit dem Titel „Die Intellektuellen und die CDU“. Darin legte Kohl dar, wie die CDU ihre tradierte Distanz zu den Intellektuellen werde überwinden müssen, wie aber die Intellektuellen ihrerseits verstehen lernen müssten, dass sie selbst in einer modernen Staatsordnung kritisierbar geworden seien.

Kohl mit dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow an einem rustikalen Arbeitstisch im Kaukasus.

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Das Verhältnis der CDU zu den Intellektuellen werde auch in Zukunft nicht problemlos sein können, so Kohl: „Aber es kann sich, zum Vorteil beider Seiten, normalisieren, wenn die CDU ihre politischen Ziele theoretisch und überzeugend zu begründen versteht und die Intellektuellen das Geschäft der Kritik nicht von der aktuellen politischen Konjunktur abhängig machen. Dann werden beide, CDU und Intellektuelle, beitragen zur Realisierung einer realen Utopie: nämlich einer kritischen, offenen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland.“

Die Versöhnungsgeste auf dem Schlachtfeld von Verdun mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand ging 1984 um die Welt.

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Helmut Kohl - Ein Leben in Bildern
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So denkt und redet niemand, der zu mehr als pfälzischer Volkstümlichkeit „in diesem, unserem Land“ und Bläh-Phrasen („und lassen sie mich das in aller Deutlichkeit sagen, meine Damen und Herren“) nicht taugt. Kohl war einfach alles andere als elegant, aber im Vergleich mit dem von Deutschen nachträglich übertrieben verehrten Helmut Schmidt ein sympathischer Mensch, der jedoch mit den Jahren und dem Erfolg verbitterte, je mehr er sich bestätigt sah. Seine Fähigkeit des Aussitzens war vor allem die Kunst, die Dinge an sich abprallen zu lassen. Schmähungen führten bei Kohl nicht zu Selbstzweifeln, und unverhoffte Siege zu der Gewissheit, am Ende werde die Geschichte ihm schon recht geben.

Kohl war lange der Einzige, der glaubte, er sei in der Lage und berufen, 16 lange Jahre die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmen. Das Handelsblatt bezeichnete ihn einmal als den „Machiavelli aus der Pfalz“ und meinte damit den „beharrlich, durchtrieben und doch diskret agierenden Machtmenschen im Kanzleramt“, der durch Begünstigung einerseits und Abstrafung sowie Ächtung andererseits seine Macht virtuos ausweitete und ausspielte. Und es sei Kohls „routinierte Durchtriebenheit“ gewesen, die ihn am Ende selbst verführt habe, bis hin zur regelrechten Pervertierung seiner „Bimbes“-Politik, an die er sich kettete, und die ihn „vom alles beherrschenden Koloss am Rhein zum politischen Zwerg“ Berlins mutieren ließ.

Dieses Urteil tut weniger Helmut Kohl Unrecht als vielmehr Niccolò Machiavelli (1469—1527), den zu Unrecht verrufenen florentinischen Politiker und Diplomat, der ein glühender Verteidiger der Republik war. In Machiavellis „Diskursen“ über das Wesen einer starken Republik hätte Helmut Kohl wenigstens die Überschriften lesen sollen. Kapitel 24: „Wohlgeordnete Republiken setzen Belohnungen und Strafen für ihre Bürger fest, gleichen aber nie eins durch das andere aus.“ Als Lehre aus der römischen Geschichte argumentierte Machiavelli: „Denn gesellt sich bei einem Bürger, der irgendetwas Großes für den Staat geleistet hat, zu dem Ansehen, das er dadurch erwirbt, noch Verwegenheit und das Vertrauen auf Straflosigkeit, wenn er etwas Böses vollbringt, so wird er bald so übermütig werden, dass jede bürgerliche Ordnung sich auflösen muß.“

Das war, was Helmut Kohl zehn Jahre nach der Wiedervereinigung von sich selbst als Vater des geeinten Deutschlands glaubte; über den Dingen zu stehen, die Ganoven-Ehre des gegebenen Gesetzesbrecher-Wortes straflos über das Gesetz stellen zu dürfen. Es spricht viel dafür, dass Helmut Kohl es bis zum Schluss als ungerecht empfand, wegen dieses Rechtsbruchs als politisch Geächteter zu enden. Wenn die Geschichte, die er so oft im Munde führte, es gut mit ihm meint, wird dieses Phänomen einst als Hoeneß-Syndrom beschrieben werden.

Zum falschen Aufrechnen gehört aber auch, nun über Kohls Straucheln in verkniffenes Schweigen und Anerkennungs-Verweigerung gegenüber seiner Lebensleistung zu verfallen. Denn Helmut Kohl war in der Tat auch, als was er sich selbst dachte und wahrnahm: Ein deutscher Patriot, der Großartiges für sein Vaterland und die Einigung Europas geleistet hat. Dafür geachtet zu werden, hat er verdient.