Helmut Schmidt: 90 Jahre und niemals außer Dienst

Am kommenden Dienstag feiert der Altkanzler seinen 90. Geburtstag. Und gilt inzwischen als Ikone der deutschen Politik.

Düsseldorf. "Eiserner Kanzler" hat man ihn genannt, und schon bei seinem Sturz 1982 nahmen die Karikaturisten Anleihen bei Bismarck: "Der Lotse geht von Bord" variierten sie die berühmte Zeichnung von 1890 im "Punch".

Wie Bismarck trug Helmut Schmidt dabei die eher bürgerliche Schirmmütze, auch als "Prinz-Heinrich-Mütze" bekannt. Ein "preußischer Hanseat" wurde er genannt oder einfach "der Macher". Schmidt lebe das "Pathos der Verantwortung und der Pflicht", urteilt der Historiker und Schmidt-Biograph Hartmut Soell.

Einen Teil seiner Bedeutung verdankt Schmidt sicherlich auch der schieren Last seiner nun 90 Jahre, dieser Zeitzeugenschaft deutscher Geschichte, die ihn in die Schützengräben des verbrecherischen Krieges führte, in die Ruinen, die die Nazi-Hybris hinterließ, und in die Mühen eines Wiederaufbaus, der Deutschland schließlich zurück in den Kreis der weltweit geachteten Nationen brachte.

Es ist wohl diese Erfahrung von Gefährdung und Schuld, die Schmidts gelegentlich fast wütende Zurückhaltung bei wohlfeilen moralischen Urteilen erklärt. "Wo kommen wir eigentlich her? Wir kommen von Adolf Nazi her, von Tirpitz, von Ludendorff, von Wilhelm II., von Bismarck. Und jetzt schwingen wir uns plötzlich auf und belehren China, wie es mit den tibetischen Buddhisten umzugehen habe?"

Gewiss, auch oberlehrerhaft, oft an der Grenze zur Arroganz, gibt sich der Altkanzler gern. Seine barschen Urteile - jedem anderen würden sie um die Ohren gehauen, bei Schmidt sind sie schon Kult. Die letzte und einzige Ikone der deutschen Politik.

Das hat natürlich auch und vor allem mit den acht Jahren seiner Kanzlerschaft zwischen 1974 und 1982 zu tun. Dabei hatte es die Geschichte nicht gut gemeint mit dem Hamburger. Die Kanzlerschaften von Adenauer, Brandt und Kohl stehen für historische Weichenstellungen: Westbindung, Aussöhnung mit dem Osten, Wiedervereinigung. Während Schmidts Zeit im Bundeskanzleramt weht der später dann von Kohl bemühte "Mantel der Geschichte" nicht durch Bonn.

Schmidt war Nachlassverwalter des gescheiterten Willy Brandt, und die Herausforderungen, denen sich der zweite sozialdemokratische Kanzler zu stellen hatte, taugten nicht für die großen Kapitelüberschriften in den Geschichtsbüchern. Aber es waren Notsituationen: die Weltwirtschaftskrise 1974 und das Terrorjahr 1977. Und die Art, in der Schmidt sie bewältigte, bestimmt seinen Ruf bis heute: Würde, Härte und Ernsthaftigkeit.

Zum Sozialdemokraten wird Schmidt in britischer Kriegsgefangenschaft. Seit 1953 im Bundestag, erhält er schnell den Beinamen "Schmidt-Schnauze". Einen Ruf als kompetenter Krisenmanager erwirbt er sich bundesweit durch seinen Einsatz als Innensenator bei der Hamburger Sturmflutkatastrophe 1962.

Im Kabinett Kiesinger/Brandt wird er 1969 - weniger aus Neigung denn aus Pflichtgefühl - Verteidigungsminister. Gerade im Amt, setzt Schmidt den Abbau der von den USA an der innerdeutschen Grenze verlegten Atomminen durch, die Deutschland im Ernstfall in die nukleare Apokalypse gestürzt hätten.

Als Schmidt 1974 die Nachfolge von Willy Brandt als Kanzler antritt, sieht er sich einer ernsten Weltwirtschaftskrise gegenüber. Ölpreisschock, hohe Inflation und Arbeitslosigkeit erschüttern die Republik. Schmidt vermittelt der Nation den Eindruck, er habe die Dinge im Griff. Zusammen mit Giscard d’Estaing begründet er 1975 die Tradition der Weltwirtschaftsgipfel, als Kamingespräche in Rambouillet erfunden, sind sie heute als G8-Gipfel zu eher zweifelhaften Großveranstaltungen verkommen.

Im Terrorjahr 1977 zeigt Schmidt Härte - gegenüber Forderungen der RAF ebenso wie gegenüber Rufen, die Todesstrafe einzuführen oder die gefangenen Terroristen zu erschießen. Den Doppelbeschluss der Nato zur "Nachrüstung" führt er mit herbei, wird aber von den Amerikanern getäuscht: Schmidt wollte die Pershings als Verhandlungsmasse gegen die SS-20 der Sowjets, die Amerikaner interpretierten den Beschluss aber als Freibrief für eine ungebremste Aufrüstung. Große Teile der SPD folgen Schmidt in dieser Lage nicht mehr.

Sein Sturz durch das konstruktive Misstrauensvotum 1982 wird von weiten Teilen der Öffentlichkeit als heimtückisches Schurkenstück empfunden. Zeitgenossen erinnern sich an das Bild, als der kleine Mann nach der Abstimmung aufrecht und kerzengerade durch die Reihen des Bundestags geht, und zugleich sehen die Drahtzieher Kohl, Genscher und Lambsdorff, obwohl an Körpergröße und -masse deutlich überlegen, wie ertappte Zwerge aus.

Mehr als ein Vierteljahrhundert ist seither vergangen, und doch ist Helmut Schmidt in der deutschen Politik präsenter denn je. Er ist der einzige, dem wir das Prädikat "Weltpolitiker" zugestehen. Seine Gespräche "Auf eine Zigarette" im Zeitmagazin sind Kult. Und seine nun schon sechs Jahrzehnte dauernde Ehe mit Loki scheint zu bestätigen, dass für Schmidt auch im Privaten gilt, was er im Politischen vorgelebt hat: Verantwortung, Zuverlässigkeit, Anstand und Würde.

Vielleicht ist es das, was seine so ungeheure Popularität ausmacht: ein deutsches Leben in diesem so schrecklichen deutschen Jahrhundert, das um die Schrecken weiß und ohne jeden Hochmut, aber erhobenen Hauptes die Würde der Nation verkörpert. Seine Urteile sind entschieden, ohne falsche Rücksichtnahmen, stets gut begründet. Eine Haltung, in der wir wohl uns gerne selbst sehen wollen.

Am Dienstag, einen Tag vor Heiligabend, wird Helmut Schmidt 90 Jahre alt.