Landtagswahlen und die AfD Im Land der „paradoxen Parallelität“

Die AfD wird am Sonntag ein paar Dutzend Landtagssitze erobern und in Kürze — wie alle rechtspopulistischen Parteien vor ihr — im politischen Aus landen. Dass es statt ihrer seriöse Konservative nicht in die Parlamente schaffen, liegt auch daran, wie sich die öffentliche Meinungsbildung verändert hat.

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Berlin/Stuttgart. Kaum einer kennt den Europaabgeordneten Bernd Kölmel. Die Partei, deren baden-württembergischer Landeschef und Bundesvize er ist, auch nicht: Von der „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ haben die meisten Deutschen noch nie gehört. Selbst mit Forderungen wie der Einführung von 1.000.000-Banknoten (Kölmel: „Mit 1-Million-Euro-Scheinen passen eine Milliarde Euro in einen Schuhkarton“) schafft er es nicht in die Nachrichten. Und am Sonntag wohl auch nicht in den Stuttgarter Landtag.

Das ist bedauerlich, weil statt seiner dort demnächst irgendein Rechtsaußen-Schreihals von der AfD Platz nehmen wird, von der ihr einstiger Mitgründer Bernd Lucke die „Allianz für Fortschritt und Aufbruch“ (kurz: Alfa) im vergangenen Sommer abgespalten hat. Luckes und Kölmels neue Partei „Alfa“ hätte programmatisch wie personell — im Gegensatz zur in den Rechtspopulismus abgewanderten AfD — alle Voraussetzungen, das zu werden, was ein Teil des Bürgertums im deutschen Parteien-Spektrum schmerzlich vermisst: eine respektable, konservative Partei.

„Deutschland lebt mit einem Bundestag, in dem hundert Prozent der Parlamentarier einen sozialdemokratischen Konsens von Tiefrot bis Zartrosa pflegen. Ist derlei Eintracht nicht eine feine Sache? Ja, aber. Es fehlt, was den Lebenssaft einer Demokratie ausmacht: die konturenscharfe Alternative, der regelhafte Streit, die einem Land neue Wege jenseits der Trampelpfade zeigen“, grantelte „Zeit“-Herausgeber Josef Joffe im Sommer 2015.

Damals stand die AfD vor dem Aus und in den Umfragen bei drei Prozent. An der Richtigkeit beider Diagnosen — dem Fehlen einer seriösen konservativen Partei und der demokratischen Untragbarkeit der AfD — hat sich seitdem nichts geändert: „Solche Parteien werden unweigerlich zum Sammelbecken für Hart-Rechts: Fremdenfeinde, Abschotter, Chauvinisten, Autoritäre, alte und neue Nazis, die von vergangener Größe und völkischer Erniedrigung raunen“, befand Joffe. Etwas uncharmanter formulierte es kürzlich der Magdeburger Psychologe und Politikwissenschaftler Thomas Klicke: Die AfD sei „ein vorübergehendes Stoffwechselprodukt der Geschichte“.

Dass es die AfD überhaupt noch gibt, verdankt sie ausschließlich dem 4. September 2015, als die Kanzlerin dem „humanistischen Imperativ“ folgte, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge einreisen zu lassen, und dem unerträglichen sexuellen Massen-Übergriff in der Kölner Silvesternacht. Ohne die aus beiden Vorgängen entstandene Angst-Stimmung wäre die AfD längst dort gelandet, wo Stoffwechselprodukte hingehören. In welches Parlament die AfD bisher auch einzog, binnen kürzester Zeit lieferte sie die erwartbaren Nachrichten von innerer Spaltung, Steuermittel-Missbrauch oder rassistischen Entgleisungen. Mit dem bevorstehenden Rauswurf der Europaabgeordneten Beatrix von Storch und Marcus Pretzel aus der EKR-Fraktion der europäischen Konservativen fällt der letzte Rest ihrer bürgerlichen Fassade.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner lag völlig richtig, als er CDU und SPD Ende Januar in einer Debatte im NRW-Landtag vorwarf, mit gegenseitigen Rechtspopulismus-Bezichtigungen den „wahren Feinden unserer Gesellschaft“ in die Hände zu spielen, einer AfD nämlich, die mit einer „Volksgemeinschaft“ argumentiere, „als sei das noch eine kulturelle, religiös oder ethnische Identität, mit der man wie vor 150 Jahren Politik machen könnte“, und die allen Ernstes wieder rassetheoretische Redner toleriere. Was sich da hochtrabend Partei nennt, hat nach drei Jahren immer noch kein Programm zustande gebracht und existiert ausschließlich aus dem eigenen medial verbreiteten Krach, den die AfD gezielt schlägt.

„Um sich medial Gehör zu verschaffen“, so AfD-Sprecherin Frauke Petry in einer gekaperten E-Mail, „sind daher pointierte, teilweise provokante Aussagen unerlässlich. Sie erst räumen uns die notwendige Aufmerksamkeit und das mediale Zeitfenster ein, um uns in Folge sachkundig und ausführlicher darzustellen.“

Diese Methode ist hinlänglich bekannt: „Die Hauptsache ist, dass sie uns erwähnen, dass sie sich immer wieder mit uns beschäftigen, und dass wir allmählich in den Augen der Arbeiter selber wirklich als die Macht erscheinen, mit der zur Zeit allein noch eine Auseinandersetzung stattfindet. Was wir wirklich sind und was wir wirklich wollen, das werden wir eines schönen Tages der jüdischen Pressemeute schon zeigen“, ist im Original nachzulesen (Adolf Hitler, Mein Kampf, Seite 544).

Dass die AfD am Sonntag voraussichtlich in drei Landtage einzieht, könnte man aufgrund der Vorhersehbarkeit ihres parlamentarischen Scheiterns natürlich so kommentieren wie „Bild“-Vizechefredakteur Nikolaus Blome: „Ja, und?“ Diese Haltung verkennt aber, dass alle, die der AfD ihre Stimme geben, am Ende wieder von niemandem vernünftig in den Landtagen vertreten sein werden. So ist es unverändert eines der größten Probleme des aktuellen Bundestages, dass aufgrund des Wahlergebnisses von 2013 nur 60 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt von ihm repräsentiert werden. Es regiert ein Mitte-Links-Bündnis zweier kaum unterscheidbarer Volksparteien gegen eine ausschließlich linke Opposition.

Für eine parlamentarische Demokratie ist es Gift, wenn alles, was rechter oder liberaler ist als der CSU-Kreisverband Pfaffenhofen a. d. Ilm, einfach gar keine politische Repräsentation mehr erfährt — und damit ansprechbar für Hetzer aller Art gemacht wird.

Gleichzeitig stehen die Zeichen der gesellschaftlichen Entwicklung schlecht, das Potenzial der Nicht-Repräsentierten in einer konservativen, klar positionierten und rational argumentieren Partei wie „Alfa“ zu binden, weil die Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung sich gravierend verändert haben: „Neben das Credo der Vernunft tritt zunehmend eine Psychologisierung des öffentlichen Raums. Nicht mehr die Rationalität der Argumentation, fundierte Fakten und Zahlen sowie eine Kultur des Meinungsaustauschs und des vernunftbetonten Diskurses unter Bürgern allein prägen die Bildung der öffentlichen Meinung, sondern verstärkt Emotionalität, irrationale Empfindungen und Vorurteile sowie unspezifische Ängste“, heißt es in einer Studie des Kölner Rheingold-Instituts aus dem vergangenen November.

Darin untersuchten die Kölner Forscher im Auftrag einer Stiftung des Geflügelproduzenten Wiesenhof Veränderungen bei der öffentlichen Meinungsbildung. Was die Hühner-Züchter interessierte: Wie kann es sein, dass jeder weiß, dass man 80 Millionen Deutsche „nicht mit Bullerbü-Bauernhöfen aus dem Kinderbuch“ ernähren kann, aber die aus hygienischen, medizinischen und sozialen Gründen vollkommen alternativlose Industrie-Produktion von Lebensmitteln trotzdem abgelehnt wird? Was die Psychologen fanden, war eine „irrationale Meinungsvielfalt in deutschen Köpfen“ und eine „Kultur der paradoxen Parallelität“, die viel tiefer reicht als die Kaufentscheidung für oder gegen abgepackte Hähnchen-Flügel.

Nicht nur im Bereich Ernährung (Massentierhaltung ablehnen, aber die Produkte kaufen) vertraten bis zu 60 Prozent der Befragungsteilnehmer völlig unvereinbare Standpunkte gleichzeitig: „Immer mehr zeigt sich das Bild einer satten Gesellschaft, die egoistisch auf Besitzstandswahrung und Berücksichtigung eigener Befindlichkeiten aus ist. Engagement, Risikobereitschaft, Mut zur Veränderung nimmt man in der Bürgerschaft so gut wie nicht wahr.“ Die gleichen Befragten, die sich der Mühe einer Meinungsbildung entzogen, die Widersprüche auflöst oder angeht, beklagten jedoch, dass Parteien sich kaum noch voneinander unterschieden (80 Prozent) und man kaum noch auf Politiker treffe, die für etwas stünden und aus Überzeugung handelten (89 Prozent).

Die Studie bildete zugleich ab, wie Meinungs-Beeinflusser auf die neuen Wankelmut-Bürger reagieren. Befragt wurden von den Forschern nämlich auch 50 Entscheider aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Medien, Lobby-Organisationen und NGOs, denen die Kölner Psychologen eine „Angstfaszination“ für Krisen attestieren. „Die öffentliche Meinung wird — so die Experten — substantielle Veränderungen des aktuellen Status Quo nur akzeptieren, wenn eine ernste Krise eintritt“, heißt es in der Studie, und: „In den Interviews wurde deutlich, dass die Vorstellung einer ernsten Krise bei den Experten Ängste auslöst, zugleich aber — bewusst oder unbewusst — mitunter geradezu herbeigesehnt wird, weil sie mit dem Gefühl verbunden ist, endlich wieder etwas bewegen und entwickeln zu können.“

Während die Experten insgeheim hofften (und zugleich fürchteten), dass die Psychologisierung des öffentlichen Raumes durch eine Krise gestoppt werde, zeigten die befragten Bürger keine dahingehenden Wünsche: „Die Vorteile dieses methodischen Prinzips — nämlich in sich Widersprüchliches zugleich einfordern zu können — scheinen für sie bislang noch zu überwiegen.“ Kaum ein Kandidat verkörpert diese „Kultur der paradoxen Parallelität“ bei den morgigen Wahlen so perfekt wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der laut Parteibuch ein Grüner ist, für die CDU-Kanzlerin betet und es schafft, zugleich bodenständig, fortschrittlich, sozialdemokratisch und liberal aufzutreten.

Für redliche Konservative wird Sonntag ein weiterer bitterer Tag.