Politik Beim SPD-Parteitag hängt viel von Martin Schulz‘ Rede ab — und von seinen Ministerambitionen

600 Delegierte der SPD plus 45 Vorstandsmitglieder entscheiden am Sonntag, ob die Partei in förmliche Koalitionsverhandlungen mit der Union einsteigt.

Beim SPD-Parteitag hängt viel von Martin Schulz‘ Rede ab. Archivbild.

Foto: Bernd von Jutrczenka

Berlin. Auf die Frage, wie es wohl ausgehen werde, antwortet ein langjähriger Mitarbeiter des Willy-Brandt-Hauses erstaunlich präzise: „68 zu 32 Prozent für die GroKo. Die Linke bei uns wird immer überschätzt“. Das bestätigt die Geschichte der letzten großen Konflikte in der SPD zwar, etwa die Debatte um das Freihandelsabkommen CETA, doch deutet vieles darauf hin, dass es am Sonntag in Bonn etwas knapper wird.

600 Delegierte plus 45 Vorstandsmitglieder entscheiden, ob die Partei in förmliche Koalitionsverhandlungen mit der Union einsteigt. Das Treffen ist auf fünf Stunden angesetzt: Rede des Vorsitzenden Martin Schulz, Debatte. Dann folgt die Abstimmungen über die Vorstandsempfehlung, GroKo-Verhandlungen aufzunehmen, und einen Gegenantrag des Berliner Landesverbandes, genau das nicht zu tun. Da die Delegierten alle ihre Rückfahrten gebucht haben, dürfte es keine gravierenden Verzögerungen geben. Angela Merkel und ganz Deutschland warten auf die Entscheidung. Das Ende der unendlichen Geschichte um die Bildung einer neuen Bundesregierung wäre freilich auch das noch nicht. Über das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen müssten nämlich am Ende noch einmal alle SPD-Mitglieder per Urabstimmung entscheiden. 2013 stimmten nach ebenfalls kontroverser Debatte 75 Prozent der Mitglieder dafür.

Das Pro-Lager hat sich diesmal erst mit Verzögerung formiert. Die Parteizentrale zeigte sich erstaunlich schlecht auf eine innerparteiliche Überzeugungskampagne vorbereitet. Argumentationshilfen, die die positiven Seiten des Sondierungsergebnisses betonen, sind erst seit wenigen Tagen auf der Website zu lesen; Schulz hatte sie bei der ersten Pressekonferenz nach den Sondierungen nicht parat. Dafür irritierte er viele Genossen mit der Andeutung, dass seine Absage an einen Ministerposten unter Angela Merkel nicht das letzte Wort gewesen sein müsse. In der SPD-Bundestagsfraktion wurde von einem „Kommunikationsdesaster“ gesprochen.

Die Gegner, angeführt von Juso-Chef Kevin Kühnert und anderen Parteilinken, waren hingegen sofort präsent, auch medial. Ihnen half, dass die ersten Entscheidungen von Parteigremien in Sachsen-Anhalt, Berlin, Thüringen und Dortmund gegen eine neue GroKo liefen. Anfang der Woche drohte gar eine regelrechte Anti-GroKo-Dynamik. Dazu trugen auch Aussagen von stellvertretenden Parteivorsitzenden bei, die Nachverhandlungen in wichtigen Punkten wie der Bürgerversicherung forderten — und so den Eindruck verstärkten, die SPD habe nicht genug erreicht.

Doch seit einigen Tagen dreht sich die Stimmung wieder. Die 60 Abgeordneten der „Parlamentarischen Linken“ votierten überraschend mit großer Mehrheit für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. Man dürfe der Basis die letzte Entscheidung nicht abnehmen, so das Argument des Sprechers der Gruppe, Matthias Miersch. Zwölf Großstadtbürgermeister der SPD meldeten sich öffentlich: „Die mit einer Regierungsbeteiligung verbundene Möglichkeit sozialdemokratische Politik für die Menschen zu gestalten, darf nicht ausgeschlagen werden“. Auch die Gewerkschaften und SPD-Altvordere wie Kurt Beck, Hans Eichel oder Erhard Eppler griffen zugunsten von GroKo-Verhandlungen in die Debatte ein. Ex-Parteichef Franz Müntefering warnte erst am Freitag vor einem „bitteren Eintrag“ in das Geschichtsbuch der SPD, den ein Nein bedeute.

Halbwegs sicher vorhersagen lässt sich nur, dass die 45 Vorstandsmitglieder fast alle für ihre eigene Empfehlung stimmen werden, mit der Union weiter zu reden. Die 144 Nordrhein-Westfalen, die fast ein Drittel der Delegierten stellen, dürften relativ verteilt votieren, ebenso die Hessen (72) und Bayern (78). Die 23 Berliner sind wie die Thüringer mehrheitlich gegen die Groko, die 81 Niedersachsen, 47 Baden-Württemberger und 15 Hamburger hingegen ebenso wie die 24 Saarländer mehrheitlich dafür. Eine Prognose über den Ausgang lässt sich schwer treffen, außer dass die Wahrscheinlichkeit für ein Ja etwas höher ist als für ein Nein.

Die Tagesform der Redner wird entscheidend sein, unter anderem der hoch angesehenen Malu Dreyer, die anfangs eine Minderheitsregierung wollte, sich nun aber mit einer Fortsetzung der Koalition mit der Union angefreundet hat. „Oppositionsromantik ist auch keine Lösung“, sagte sie am Freitag. Und bei Martin Schulz wird es sehr darauf ankommen, ob er nach seinen vielen Hakenschlägen in den letzten Monaten wieder einen überzeugenden Ton trifft. Intern laufen dem Vernehmen nach massive Bemühungen, ihn zu dem Versprechen zu bewegen, auf einen Ministerposten zu verzichten und sich ganz darauf zu konzentrieren, die SPD auch in der großen Koalition zu erneuern und zu profilieren. Das hatte Ex-Finanzminister Hans Eichel sogar öffentlich von Schulz gefordert. „Eine solche Aussage“, so ein Bundestagsabgeordneter, „würde am Sonntag enorm helfen“ .