Herr Franzke, warum gibt es viele Westdeutsche in der ostdeutschen AfD? System oder Zufall?
Interview zur AfD „Die AfD betätigt sich als Kümmerer“ - warum die Partei im Osten so viel Erfolg hat
Jochen Franzke, Professor in Potsdam, über die Befindlichkeiten in Ostdeutschland vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen.
Am 1. September werden in Brandenburg und Sachsen neue Landtage gewählt. Den Prognosen nach hat die AfD Aussicht darauf, mit Ergebnissen von mehr als 20 Prozent stärkste Kraft zu werden. Über westdeutsche Kandidaten, die Unzufriedenheit im Osten und Regierungsfehler seit der Wende haben wir mit Jochen Franzke, Professor für Verwaltungswissenschaften an der Universität Potsdam, gesprochen.
Jochen Franzke: Es ist eindeutig, dass das Führungspersonal der AfD westdeutsch geprägt ist. Das passt in das gesamtdeutsche Bild hinein. Aber das hindert sie nicht daran, klassische ostdeutsche Parolen für ihren Wahlkampf zu nutzen, Wende 2.0 zum Beispiel. Es hört sich nur ein bisschen merkwürdig an, aus dem Mund von jemandem, der nicht beteiligt war.
Spielt das für die Bevölkerung keine Rolle, dass die Kandidaten keine DDR-geprägte Familiengeschichte haben?
Franzke: Es gab eine Zeit, in der man gar nicht mit Leuten reden wollte, die im Westen geboren sind. Aber das scheint im Augenblick überhaupt keine Rolle zu spielen. Das heißt, diese Frustration, Enttäuschung bricht sich Bahn. So nach dem Motto: wir wollen den Herrschenden maximal weh tun. Und das kann man im Moment hervorragend mit der AfD. Das ist ja auch eine bestimmte Tradition, die wir auch schon in der Wendezeit erlebt haben, wenn man irgendetwas durchsetzen will, dass man auf Personen setzt, egal wo die herkommen.
Können Sie das erklären?
Franzke: Wir haben in Ostdeutschland eine stärkere Staatsgläubigkeit als in der alten Bundesrepublik. Wenn etwas verändert werden soll, wird das in erster Linie vom Staat erwartet. Und da gleichen sich die Töne ganz stark, wenn man die Kohl-Begeisterung 1989/90 sah.
Auch in anderen Parteien sind Führungskräfte aus dem Westen der Republik. Können diese sich in die Mentalität einfühlen?
Franzke: Das hängt von den individuellen Fähigkeiten ab. Es wird ja auch immer schwieriger, „Ossi“ und „Wessi“ zu definieren. Viele Identitäten sind mittlerweile gemischt. Das sind Leute, die ihre Karriere hier begonnen haben und dann wieder zurückgekommen sind. Das hängt von der Bereitschaft ab, auch selbst auf die Leute zuzugehen, in deren Umgebung man jetzt lebt. Oder man macht seinen Job in irgendeinem Ministerium so wie immer und interessiert sich nicht weiter dafür, was da draußen vor sich geht. Aber das hat im Osten stärkere Effekte. Negative Effekte. Weil das sozusagen auf ein Umfeld trifft, das sowieso unzufrieden ist mit den Ergebnissen seit 1989.
Für die AfD kandidieren allerdings nicht die „Abgehängten“. Sie sind Ärztin, Lehrer, Juristin...
Franzke: Das ist ja das Interessante. Die AfD ist nicht nur Protestpartei, sondern sie verkörpert in unserem jetzigen Parteiensystem eine bestimmte soziale, politische Gruppe der konservativen, national denkenden – wenn Sie es böse formulieren wollen – völkisch denkenden Menschen, die sich nach einer glorreichen Vergangenheit sehnen, die es so nicht gegeben hat, aber die die Lösung für die modernen Probleme in Preußen, in der deutschen Geschichte usw. suchen. Das ist nicht das Milieu der sozial Abgehängten. In der Protestbewegung, die im Moment alles aufsaugt wie ein Staubsauger, was irgendwie Protest ist, da finden wir eher Vertreter der unteren Mittelschicht oder der prekären Lebensverhältnisse, darunter auch jene, die seit der Wende 89 nie wieder einen Job bekommen haben. Das fällt in Brandenburg jetzt auch in eine Zeit, in der viele Rentenbescheide verschickt werden. Das sorgt dann noch einmal für Ernüchterung.
Nach der Wende sind viele Betriebe in die westdeutsche Treuhandanstalt übergegangen. Inwiefern trägt Westdeutschland Schuld an der aktuellen Lage?
Franzke: Der Hauptfehler war, dass man gedacht hat, mit viel Geld ließen sich die Probleme lösen. Es ist zwar relativ viel Geld geflossen. Aber es fehlen zwei Dinge. Erstens: die Unterrepräsentanz der Ostdeutschen in der bundesdeutschen Elite. Beispielsweise gibt es 30 Jahre nach der Wende in der Bundeswehr keinen ostdeutschen General. Zweitens: eine Wirtschaftsstrategie.
Liegt das an der fehlenden Qualifikation? Oder lassen die Westdeutschen das einfach nicht zu?
Franzke: Das weiß ich nicht, aber es ist miteinander verbunden. In den Brandenburger Ministerien sind dreiviertel der Abteilungsleiter, die meisten Staatssekretäre, nicht aus Brandenburg. Das verstärkt bei vielen AfD-Wählern und darüber hinaus den Eindruck der Zweitklassigkeit. Da kann man mit Angela Merkel nicht punkten. Das kann man bis an die Uni zur Besetzung von Professuren fortsetzen. Das ist ein Riesenproblem. Man hat keinen Weg gefunden, um die Ostdeutschen in den Bereichen zu fördern, in denen sie aus verständlichen Gründen 1990 keine Rolle gespielt haben. Da fehlt eine Strategie, und das fällt jetzt auf die Füße. Das zweite Problem ist wirtschaftlicher Art. Ostdeutschland ist überwiegend die verlängerte Werkbank, dort wird zugearbeitet zu der Produktion in Westdeutschland. Die großen Konzerne sitzen dort, die Dax-Unternehmen ebenfalls. Das ist heute genauso wie 1990. Auch da steht keine Strategie dahinter. Es gab schon 1992 einen Bundestagsbeschluss, neue Bundesbehörden bevorzugt in Ostdeutschland anzusiedeln. Stattdessen wurden aber von den 25 neuen Behörden nur fünf im Osten angesiedelt, zuletzt das Bundesfernstraßenamt in Leipzig. Hinzu kommt, dass auch diese Behörden in der Regel von Westdeutschen geführt werden. Daher muss man sich über die weit verbreitete Unzufriedenheit nicht wundern.
Inwiefern kommt diese Problemlage in westdeutsch geprägten Köpfen an?
Franzke: Ich stoße damit immer auf sehr viel Unverständnis.
Warum?
Franzke: Im Westen wird das nicht so angenommen, weil man immer davon ausgeht: Ja der Osten, das sind bloß 20 Prozent der Deutschen, die werden niemals wichtig sein, wenn es um Bundestagswahlen geht. Es ist eine Unterschätzung, welche Brisanz diese Tatsache hat, trotz der nicht zu leugnenden Begrenztheit des Einflusses der Ostdeutschen insgesamt.
Wieso schafft es eine ehemalige Volkspartei nicht, im Osten Fuß zu fassen? Sind die Politiker schon viel zu weit entfernt? Im „ZDF heute Journal“ sagte kürzlich eine Brandenburger SPD-Frau in Bezug auf AfD-Wähler, dass man die Sorgen und Nöte der Bürger nicht ernst nehmen müsse.
Franzke: Da schlägt bei einer Partei, die 30 Jahre das Land Brandenburg regiert, auch die Arroganz der Macht durch, die wir auch aus anderen Bundesländern kennen. Das ist aber nicht verwunderlich. In Brandenburg haben wir rund 22 000 Parteimitglieder in allen politischen Parteien. Bei 2,5 Millionen Einwohnern sind nicht mal ein Prozent aller Brandenburger Parteimitglied. Da können die Parteien nicht flächendeckend wirken, im großen Teil dieses Landes gibt es diese daher faktisch nicht. Die haben sich auf die großen Städte zurückgezogen. Und diese Lücke hat die AfD gefüllt. Sie hat sich als Kümmerer betätigt, stilisiert sich als „Retter des ländlichen Raums“. Zum Beispiel in der Lausitz, da sagt man: „Da ist ja noch Braunkohle, da können wir noch 1000 Jahre weiter fördern.“ Sie haben also simple „Lösungen“ anzubieten. Aber sie haben eben diesen Zugang, den die anderen aufgegeben haben.
Warum sind vergleichsweise so wenige Menschen in einer Partei?
Franzke: Nach der Wende war der Begriff Partei und die Mitgliedschaft in einer Partei verpönt. Und das hat dazu beigetragen, dass es diese geringe Mitgliedsstärke in den Parteien gibt. Das stellt die Frage, ob die Demokratie in Deutschland, die auf Parteien beruht, eine Zukunft hat und ob man das ändern und attraktiver machen kann. Oder wir werden mehr eine Bewegungsdemokratie, wie zum Beispiel in Frankreich. Das ist noch offen.
Braucht es die AfD im Osten, damit die anderen Parteien sehen, welche Lücken sie nicht besetzen?
Franzke: Offensichtlich ist es so. Was es nicht braucht, ist diese Zuspitzung, diese Provokation und die Vermischung mit Rechtsradikalen. Aber offensichtlich haben sich die bisher regierenden Parteien zu sicher gefühlt und zu wenig den Teil der Bevölkerung beachtet, der mit der jetzigen Situation unzufrieden ist.
In der AfD sind auch Juden, Migranten, Homosexuelle und junge Frauen Mitglied. Wie geht das überein mit den Vorbehalten in der Partei?
Franzke: In der Richtung gibt man sich sehr tolerant. Da ist alles möglich. Die Frage ist nur, ob das alles belastbar ist. Kann eine Partei, die intolerant gegenüber Ausländern und Flüchtlingen ist, tolerant gegenüber Anderen sein? Meiner Meinung nach geht das nicht. Irgendwann werden es „Vorzeige“-Juden und „Vorzeige“-Homosexuelle sein. Und der harte Kern ist rechtsextrem, ausgrenzend und intolerant. Oder aber es gelingt diesen Kräften, sich durchzusetzen, aber diese Chancen scheinen mir nicht sehr groß zu sein.
Müssen sich die regierenden Parteien Themen der AfD zuwenden?
Franzke: Ja natürlich. Egal, was passiert, die neue Landesregierung muss dieses Mal eine andere Politik machen. Das heißt eben nicht, dass man erst ein Jahr vor der Wahl ins Land hinausgeht, sondern permanente Dialoge mit allen Teilen der Bevölkerung etabliert, wo man ständig dafür Kraft einsetzt, um zu hören, wie da die Meinung ist und dann natürlich Lösungen anbietet. Und zwar Lösungen in dieser Legislaturperiode. Daran wird diese Landesregierung gemessen, sonst kann es bei der nächsten Landtagswahl noch schlimmer ausgehen. Die Linke war als PDS lange Zeit die Protestpartei in Brandenburg, aber das hat sich eben geändert. Und jetzt sind sie zehn Jahre Regierungspartei und müssen anders agieren. Für so schlecht halte ich übrigens die Regierungsarbeit der Linken in der aktuellen Legislaturperiode nicht.
Herr Franzke, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Franzke: Danke, dass ich mal nicht nur von der brandenburgischen Weltpresse interviewt wurde. Sonst fragen Russia Today und polnische Sender an. Im Ausland wird die Wahl offenbar wichtiger genommen als in anderen Teilen Deutschlands.