Die grün-rote Euphorie in Stuttgart ist verflogen
100 Tage nach Regierungsbildung belastet der Bahnhofsneubau das Koalitions-Klima.
Stuttgart. Als Winfried Kretschmann im Landtag seine erste Regierungserklärung abgab, zitierte der neue Ministerpräsident noch Hermann Hesse und den Anfang, dem ein Zauber innewohnt. Aber schon damals im Mai fühlte sich der erste grüne Regierungschef zuweilen in den Brecht’schen „Mühen der Ebene“.
Am Freitag ist der historische Machtwechsel von Schwarz-Gelb zu Grün-Rot genau 100 Tage her. Von der anfänglichen Euphorie in der Koalition ist nicht mehr viel zu spüren. Der vollmundig angekündigte Politikwechsel stockt. Und das hat vor allem einen Grund: Stuttgart 21. „Es ist noch ein Stück härter, als ich es annahm“, sagt der 63-jährige Kretschmann.
Zurück aus dem Wanderurlaub in Schottland muss er die x-te Zerreißprobe seiner Koalition über den Bahnhof überstehen. Der Ton ist ruppig: Bei der SPD wird über „Trickser“ wie Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) gewettert. Für die Grünen ist SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel der „Beton-Schmiedel“.
Kretschmann selbst ist es zwar weitgehend gelungen, sich mit seiner bedächtigen Art aus den Grabenkämpfen herauszuhalten. Doch Stuttgart 21 stürzt ihn dennoch ins Dilemma: Er weiß, dass er wegen geltender Verträge am kürzeren Hebel sitzt — beteuert aber stets, er werde alles dagegen tun, was in seiner Macht steht.
Diese zweischneidige Haltung hat dazu geführt, dass Kretschmann von dem Ziel, die Menschen zusammenzuführen, noch weit entfernt ist. „Philosophische Gedanken reichen nicht, um ein Land zu regieren“, sagt CDU-Fraktionschef Peter Hauk. Doch der Grüne lässt sich nicht beirren. „Die Naivität möchte ich mir bewahren, dass ich davon ausgehe, dass mein Gegenüber für vernünftige Argumente offen ist.“
Die Opposition hält sich derweil mit Angriffen auf ihn zurück und schießt sich auf die zweite Reihe ein, etwa den strikten Stuttgart-21-Gegner Hermann. Ohnehin glaubt CDU-Fraktionschef Hauk, dass der „Wohlfühl-Hype“ bald vorbei ist, wenn Windräder gebaut und Gemeinschaftsschulen eingeführt werden.