Interview Experte: „Das Thema Terror wird uns noch lange begleiten“

Peter R. Neumann warnt vor einer Spaltung der deutschen Gesellschaft. Sicherheitsbehörden müssten Flüchtlinge als Partner gewinnen.

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Aachen. Würzburg, Ansbach und zuletzt die Festnahme in Chemnitz: Es sind Orte, die in Deutschland in diesem Jahr vor allem Schlagzeilen machten, weil dort Attentate des IS stattfanden beziehungsweise geplant wurden. „Die Politik muss erkennen und akzeptieren, dass uns das Thema Terrorismus noch lange begleiten wird“, sagt der Terrorexperte Peter R. Neumann. Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Terrorismus. Im Interview spricht der Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College über Radikalisierung, die Rolle von Frauen im Dschihad und erklärt die Unterschiede zwischen Al-Kaida und dem Islamischen Staat.

Nach jedem Anschlag und auch nach vereitelten Attentaten wie zuletzt wiederholen sich die politischen Forderungen nach schärferen Sicherheitsgesetzen und besserer Überwachung potenzieller Täter. Ist das aus Ihrer Sicht eine sinnvolle Reaktion?

Neumann:
Mich stört, dass nach jedem Anschlag eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Aus der Politik kommen immer nur Einzelvorschläge — mal ist es die Debatte um ein Burka-Verbot, dann geht es um die Sicherheitsüberprüfung von Flüchtlingen. Was wir stattdessen dringend brauchen, ist ein schlüssiges Konzept, das alle Bereiche umfasst — von der Kapazität bei den Sicherheitsbehörden über den Präventionsbereich bis hin zu juristischen Möglichkeiten. Ein Konzept, das es uns möglich macht, mit diesen Gefahren — unabhängig vom jeweils letzten Fall — wirklich effektiv umgehen zu können, fehlt bislang. Die Politik muss erkennen und akzeptieren, dass uns das Thema Terrorismus noch viele Jahre begleiten wird.

Politik und Justiz stehen nach dem Suizid des Terrorverdächtigen Dschaber Al-B massiv in der Kritik. Sachsens Justizminister hat gesagt, man habe es mit einem „anderen Tätertypus“ zu tun gehabt. Sind die deutschen Gefängnisse gut genug auf den Umgang mit mutmaßlichen Terroristen vorbereitet?

Neumann:
In diesem Bereich gibt es noch große Defizite. Häufig fehlt es den Gefängnissen selbst an der Expertise, aber das ist ja auch nicht überraschend. Warum soll ein gewöhnliches Gefängnis in Sachsen 20 arabischsprachige Dolmetscher haben? Es ist aber dringend notwendig, dass sich die Gefängnisse besser mit den Sicherheitsbehörden vernetzen. In jedem Gefängnis muss es eine Person geben, die schnell und problemlos den Kontakt zu den Sicherheitsbehörden herstellen kann, um auf deren Expertise zurückzugreifen. Und die Gefängnisleitung und die Justizvollzugsbeamten müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass Gefängnisse Orte sind, an denen versucht wird, gewöhnliche Kriminelle für den Dschihad zu rekrutieren. Auch in Deutschland gab es bereits mehrere Fälle, in denen sich Gefangene in der Haft radikalisiert haben.

Bei den Anschlägen in Deutschland — in Ansbach und Würzburg — und nun bei der Festnahme in Chemnitz waren die Täter junge Flüchtlinge, die sich oft sehr schnell radikalisiert haben. Inwiefern hat die Flüchtlingskrise die Terrorgefahr erhöht?

Neumann:
Der unkontrollierte Flüchtlingsstrom hat für den IS Möglichkeiten geschaffen, Kämpfer unbemerkt nach Europa zu schleusen. Zusätzlich dazu haben sich auch einige wenige Flüchtlinge in Deutschland radikalisiert. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die ohne Familie und soziale Kontakte in Deutschland ankommen und deshalb leichte Beute für die Dschihadisten sind. Aber ich warne davor, Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen. Das wäre nicht nur grundlegend falsch, sondern aus sicherheitspolitischer Perspektive heraus auch gefährlich. Denn im Fall Al-B haben wir ja gesehen, dass der Terrorverdächtige durch andere Flüchtlinge zur Strecke gebracht wurde. Flüchtlinge sind diejenigen, die schon früh Hinweise geben können, wenn sich ein anderer Flüchtling in ihrer Umgebung radikalisiert. Es ist für die Sicherheitsbehörden wichtig, die Flüchtlinge als Partner zu gewinnen.

Sie nennen zwei Wurzeln der Radikalisierung. Welche sind das?

Neumann:
Eine Wurzel ist der Konflikt im Nahen Osten. Dort findet momentan eine historische Transformation statt, die auch zu neuen Konflikten geführt hat und die Menschen muslimischen Glaubens besonders stark betrifft. Die andere Wurzel ist die sehr schlecht integrierte Generation junger Menschen mit typischerweise muslimischen Migrationshintergrund, die wir letztlich in fast allen europäischen Staaten haben. Diese jungen Menschen begreifen Europa nach wie vor nicht als ihre Heimat und fühlen sich europäischen Gesellschaften nicht zugehörig. Das ist die Grundlage dafür, dass junge Europäer anscheinend überhaupt kein Problem damit haben, andere junge Europäer wahllos umzubringen — so wie wir es bei den Attentaten in Brüssel und Paris erlebt haben. Diese Attentäter waren junge Belgier und Franzosen mit Migrationshintergrund, die ihre Mitmenschen nicht als Landsleute begriffen haben, sondern als Feinde. Das ist nur deshalb möglich, weil es nicht geschafft wurde, diese Menschen erfolgreich in unsere Gesellschaften zu integrieren. Wir dürfen das Problem der Radikalisierung nicht nur aus sicherheitspolitischer Perspektive betrachten. Radikalisierung hat auch soziale und gesellschaftliche Ursachen.

Sie sehen also die gesamte Gesellschaft in der Pflicht. Was können Familie und Freunde, die Anzeichen für eine Radikalisierung erkennen, tun?

Neumann:
Das direkte Umfeld spielt eine sehr wichtige Rolle und ist auch der Ansatzpunkt für viele Präventionskonzepte. Diese einsamen Wölfe, die sich komplett unbemerkt von ihrem Umfeld und ohne Anschluss an eine terroristische Gruppierung radikalisieren, gibt es nur äußerst selten. Typische Prozesse der Radikalisierung sind auch immer Prozesse, in denen traditionelle soziale Bindungen mit der Familie, Schulfreunden, Kollegen immer mehr gekappt werden. Die Leute, die sich radikalisieren, verbringen dann immer mehr Zeit mit anderen Extremisten. In jedem Programm zur Deradikalisierung versucht man, die sozialen Beziehungen wiederherzustellen und dafür zu sorgen, dass diese Bezugspersonen sich der Gefahr bewusst sind und eine Selbstkontrolle ausüben.

Welche Rolle spielt Religion beim dschihadistisch motivierten Terror?

Neumann:
Ich habe nie zu der Fraktion gehört, die behauptet, dass der Islamische Staat überhaupt nichts mit dem Islam zu tun hat. Der Islamische Staat ist islamisch und kann im islamischen Spektrum verortet werden, allerdings ganz am äußersten Rande dieses Spektrums. Es ist nicht die Art von Islam, die von 99 Prozent der Muslime praktiziert wird. Religion an sich ist nicht das Kernproblem, aber sie bringt problematische Aspekte zu Radikalisierungsprozessen mit hinzu. Religion hat die Tendenz, Konflikte zu überhöhen, Menschen kompromissloser zu machen, weil die Konflikte als Konflikte zwischen Gut und Böse gesehen werden. Und Religion bringt zudem ein Erlösungsversprechen mit sich. Jemand, der glaubt, im Namen einer Religion eine Tat zu verüben, rechnet damit, dass er dafür nach seinem Tod belohnt wird. Das ist ein wichtiges Argument, wenn es um Selbstmordattentate geht, die aus weltlicher Sicht nicht so gut zu begründen sind wie aus religiöser Sicht.

Die Religion ist ein Punkt im Radikalisierungsprozess, das Internet ist ein anderer. Wie wichtig ist das Internet bei der Radikalisierung?

Neumann:
Das Internet ist wichtig, aber man darf seine Rolle auch nicht überschätzen. Wenn wir uns anschauen, woher die jungen Europäer kommen, die für den Islamischen Staat kämpfen, fällt eine Konzentration auf einige Städte und Orte auf. In Nordrhein-Westfalen etwa sind viele Islamisten aus Solingen und Dinslaken nach Syrien gereist, in Niedersachsen kamen viele aus Wolfsburg. Wenn das Internet bei der Rekrutierung eine so zentrale Rolle spielen würden, dürfte es diese Häufung bei einzelnen Städten und Gemeinden nicht geben. Aber diese Häufungen existieren, weil Freundschaften bei der Radikalisierung eine große Rolle spielen. In Norwegen kommt die Hälfte der Auslandskämpfer nicht nur aus demselben Ort, sondern sogar aus derselben Straße. Sie kannten sich seit der Grundschule, haben zusammen Fußball gespielt, und sind nun eben zusammen nach Syrien gegangen beziehungsweise ihren Freunden dorthin gefolgt.

Aber dennoch ist auch der Einfluss des Internets bei der Radikalisierung bedeutend. Der IS inszeniert sich dort mit Videos in einer zuvor nicht gekannten Weise ...

Neumann:
Natürlich ist das Internet wichtig, weil dort die Marke IS existiert und gepflegt wird und die Dschihadisten ihre Anwerbeversuche online viel schneller und viel weitreichender verbreiten können als über persönliche Kontakte. Eine neue, ganz gefährliche Entwicklung ist die Rolle des Internets bei der Ausführung von Anschlägen. In Ansbach und Würzburg haben wir zuletzt diese sogenannten ferngesteuerten Attentäter gesehen. Die waren nicht nur inspiriert vom Islamischen Staat, sondern sind bei ihren Taten quasi in Echtzeit bis zuletzt über den Messenger-Dienst Whatsapp von IS-Anhängern kontrolliert und instruiert worden. Das ist eine neue Entwicklung, die sehr problematisch ist und die der IS gleichzeitig sehr systematisch betreibt. Ich befürchte, davon werden wir noch mehr sehen. Das wäre in dieser Art und Weise vor zehn bis 15 Jahren nicht möglich gewesen.

Wenn Sie den Terror zu Beginn des Jahrtausends — etwa die Al-Kaida Anschläge vom 11. September — mit dem IS-Terror vergleichen. Wie haben sich die Terroristen, wie hat sich aber auch der Terror verändert?

Neumann:
Die Attentäter vom 11. September 2001 waren verschrobene Intellektuelle, die sich für Theologie interessiert haben und aus der Mittelklasse stammten. Al-Kaida hat bei den Anschlägen versucht, theologisch zu argumentieren. Der Islamische Staat hingegen hat den Dschihadismus demokratisiert, denn er hat die Ansprüche an potenzielle Terroristen radikal gesenkt. Jeder kann beim IS mitmachen, auch Menschen, die im Prinzip religiöse Analphabeten sind. Viele Kleinkriminelle wenden sich dem IS zu, und es gibt eine große Anzahl von Konvertiten. Diese Menschen, die meist aus Familien ohne Migrationshintergrund stammen, konvertieren gar nicht erst zum Islam, sondern wenden sich direkt dem Dschihad zu. Es sind Menschen, die sich von der Protestideologie des IS angesprochen fühlen und darin eine Art Gegenkultur sehen, in der sie ihren Hass auf die Gesellschaft ausdrücken können.

Anders als bei Al-Kaida ziehen auch immer mehr Frauen in den Dschihad. Wie lässt sich das erklären?

Neumann:
Das hängt stark mit der Gründung des sogenannten Kalifats 2014 zusammen. Zuvor ging es bei den Dschihadisten immer nur ums Kämpfen. Mit der Ausrufung des Kalifats in Syrien und im Irak wollte der IS einen Herrschaftsbereich mit einer neuen Gesellschaftsordnung schaffen. Dazu hat er gezielt erstmals auch Frauen angesprochen, ihre Rolle beim Aufbau des Kalifats wahrzunehmen — als Krankenschwestern, Lehrerinnen oder Mütter, die Nachwuchskämpfer für den IS gebären und großziehen. Untersuchungen zeigen, dass danach die Zahl der ausreisenden Frauen massiv angestiegen ist. Geschätzt bis zu 20 Prozent der Dschihad-Rekruten aus Europa sind mittlerweile weiblich.

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Aber warum entschließt sich eine Frau, die in Westeuropa aufgewachsen ist und hier alle Rechte besitzt, zu diesem Schritt?

Neumann: Es gibt mehrere Beweggründe. Bei den jungen Mädchen herrscht eine romantisch-naive Begeisterung für den Dschihad vor. Sie träumen davon, einen Kämpfer zu heiraten und ein großes Abenteuer zu erleben. Andererseits stammen auch viele dieser Frauen aus streng konservativen, muslimischen Familien. Sie nehmen die Reise in den Islamischen Staat fast schon als eine Art Befreiung wahr, weil die Eltern zum Beispiel den Lebenspartner für sie aussuchen wollen und ihnen ein Studium verbieten. Der IS suggeriert ihnen dann ungewohnte Freiheiten.

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen: Worauf muss sich Deutschland einstellen, was die Terrorgefahr angeht?

Neumann:
Deutschland steht im Fadenkreuz des IS. Es gibt jeden Monat Aufrufe des IS in deutscher Sprache, Anschläge in Deutschland zu verüben. Der Terror ist ein Thema, das uns leider noch viele Jahre begleiten wird. Das Wichtigste ist, dass wir uns als Gesellschaft davon nicht verrückt machen lassen. Denn das ist ja genau die Absicht der Terroristen. Das ultimative Ziel des Terrorismus ist es nicht, möglichst viele Menschen umzubringen, sondern Gesellschaften zu terrorisieren. Das heißt: Angst zu säen, Misstrauen zu verbreiten, Gesellschaften zu spalten. Wenn wir das geschehen lassen, wenn wir dieses Spiel der Terroristen mitspielen und sich unsere Gesellschaften immer weiter polarisieren, schaffen wir dadurch die Grundlage für noch mehr Radikalisierung.