Groko-Vorschlag zum Familiennachzug: Emotionen, Ängste und Schicksale
Nach einer aufgeregten Debatte folgt der Bundestag mit knapper Mehrheit dem Groko-Vorschlag zum Familiennachzug.
Berlin. Emotionaler ist es im Bundestag in dieser Legislaturperiode noch nicht zugegangen. Und auch in der letzten nur sehr selten. Beim Thema Familiennachzug für Flüchtlinge prallten die Gegensätze am Donnerstag massiv aufeinander: Die Opposition gegen den Plan von Union und SPD, die AfD gegen alle Parteien. Vor dem Reichstag standen hundert Syrer mit Transparenten: „Familienleben für alle“.
Für Flüchtlinge mit geringem („subsidiärem“) Schutzstatus ist der Familiennachzug seit zwei Jahren ausgesetzt. Nach dem Kompromiss der Groko-Unterhändler soll das bis August so bleiben. Danach jedoch sollen 1000 Menschen pro Monat nachkommen dürfen, hinzu einzelne, die als besonders drastische Härtefälle gelten. Das fand eine knappe Mehrheit. Nach Ablauf der Legislaturperiode, so der SPD-Abgeordnete Burkhard Lischka, könnten die meisten der Betroffenen ihre Angehörigen wieder in die Arme schließen. Ähnlich auch Innenminister Thomas de Maizière (CDU): „Ein bisschen Großzügigkeit, und ich sage unter Christenmenschen, ein bisschen Barmherzigkeit, braucht man auch.“
Beide Seiten hatten heftig miteinander gerungen — und interpretieren das Ergebnis unterschiedlich: Die Union feiert eine Begrenzung der Zuwanderung, die SPD bejubelt eine „weitergehende“ Härtefallklausel. Im Bundestag spotteten die anderen Fraktionen über diese Uneinigkeit der potenziellen Partner. Linke und Grüne äußerten sich aber vor allem schockiert über die inhaltlichen Pläne von Union und SPD.
„Dieses Gesetz ist willkürlich, moralisch fragwürdig und unmenschlich“, sagte Linksfraktionschef Dietmar Bartsch. Aus einem Anspruch auf Familiennachzug werde nun reines Ermessen. Demnach könne der Staat künftig pro Monat bis zu 1000 Angehörigen den Nachzug erlauben, müsse es aber nicht. „Es können auch zwei sein oder einer.“ Die Zahl von 1000 Menschen sei Willkür. Unfassbar sei auch, dass die SPD eine Härtefallregelung feiere, von der 2017 weniger als 100 Menschen profitiert hätten. Die Union habe sich hier durchgesetzt.
Bei Flüchtlingsorganisationen, Sozialverbänden und Kirchen stößt die Neuregelung ebenso auf scharfe Kritik. Sie halten die Begrenzung zum Teil für rechtswidrig und unmoralisch. Aber auch in der SPD gibt es Unmut: Einigen Genossen ist die Regelung viel zu restriktiv.
Die Opposition gab sich empört. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt begann ihre sehr lautstarke Rede mit einem Satz, den sie zuvor bei einer Fotoaktion draußen auf einem grünen Plakat präsentiert hatte: „Überlegen Sie sich, was wäre, wenn es Ihr Kind wäre.“ Die Regelung sei weder christlich noch human, die Koalition mache aus dem Grundrecht auf Familie ein Gnadenrecht. Ähnlich Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch, der die Zahl von 1000 „gegriffen“ nannte und fragte: „Warum nicht 900, warum nicht 1500?“
Es ging hoch her. Keine Rede, die nicht von Zwischenrufen und Fragen unterbrochen wurde. Sogar als die Abgeordneten bei der namentlichen Abstimmung an den Urnen standen, diskutierten sie noch miteinander. Grüne und Linke warfen der SPD vor, vor der CSU eingeknickt zu sein. Die Sozialdemokraten konterten, bei den Jamaika-Gesprächen sei der letzte Verhandlungsstand gewesen, den Nachzug noch einmal ein komplettes Jahr auszusetzen. Für die AfD bot das Thema die Gelegenheit, ihre grundsätzliche Ablehnung von Flüchtlingen zu demonstrieren. „Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“, verlangte ihr Abgeordneter Christian Wirth. Stattdessen werde von den „Altparteien“ versucht, dem Land mit einer Massenzuwanderung „das Rückgrat“ zu brechen.
Etliche Abgeordnete brachten konkrete, zum Teil ergreifende Schicksale vor. Göring-Eckardt hatte bei den syrischen Demonstranten draußen zwei Jungen getroffen, acht und sechs Jahre alt, die mit ihrer älteren Schwester nach Deutschland gekommen waren und nun auf ihre Eltern warten. „Die sind genau dort, wo gerade die Türkei mit deutschen Panzern angreift“, rief Göring-Eckardt.
Und Luise Amtsberg, ebenfalls Grüne, berichtete über eine syrische Familie aus ihrem Wahlkreis, die um ihren schwerstbehinderten Sohn bange, der noch in der alten Heimat sei. Das sei vom Auswärtigen Amt nicht als Härtefall anerkannt worden.
Thomas de Maizière hörte sich das alles mit versteinerter Miene an. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) immerhin ging hernach zu der Abgeordneten, offenbar um diesem Härtefall persönlich nachzugehen. Göring-Eckardt sagte dazu, das sei zwar „nett“ aber „genau der falsche Ansatz“. Denn jeder Fall zerrissener Familien sei ein Härtefall.