Merkel entscheidet: Mehrere AKW müssen vom Netz
Berlin (dpa) - Kurz vor drei wichtigen Landtagswahlen zieht Kanzlerin Merkel die Notbremse und setzt die Verlängerung der Atomlaufzeiten aus. Mehrere Meiler gehen angesichts der japanischen Katastrophe nun vom Netz.
Eine Rückkehr zum rot-grünen Atomausstieg soll es aber nicht geben.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte am Montag an, die erst im Herbst beschlossene Verlängerung der Atom-Laufzeiten für drei Monate auszusetzen. Alte Meiler, die nur wegen der längeren Laufzeiten noch am Netz sind, sollen abgeschaltet werden. Dies betrifft das Kraftwerk Biblis A in Hessen und das AKW Neckarwestheim I in Baden-Württemberg.
Eine Rückkehr zu dem unter Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg schloss Merkel aber aus. „Es wird nicht herauskommen das rot-grüne Energiekonzept, weil das nicht ehrlich ist“, sagte die Kanzlerin am Abend im ZDF. Gleichwohl werde es bei der Suche nach einem neuen Konzept „absolut keine Tabus geben“. An diesem Dienstag will Merkel mit den Ministerpräsidenten der betroffenen Länder über das weitere Vorgehen beraten.
Das seit 1976 laufende Atomkraftwerk Neckarwestheim I wird in Baden-Württemberg abgeschaltet, wie Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) bereits deutlich machte - kurz vor wichtigen Wahlen in drei Bundesländern. Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) will das umstrittene Kernkraftwerk Isar I abschalten. Und der umstrittene südhessische Atommeiler Biblis A geht nach Angaben der hessischen Landesregierung im Juni für eine Revision vom Netz. Biblis hat damit die schon von Rot-Grün festgelegte Betriebszeit erreicht. Die Landesregierung will eine Verlängerung nur dann in Anspruch nehmen, wenn dies nach dem Moratorium noch möglich ist.
Röttgen sagte, er gehe davon aus, dass, was in Folge des Moratoriums einmal vom Netz sei, nicht wieder ans Netz gehe. Trotz der Abschaltungen sei die Versorgungssicherheit in Deutschland gewährleistet, hieß es. Nach dem von Bundeskanzlerin Merkel und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) angekündigten dreimonatigen Aussetzen der von Schwarz-Gelb beschlossenen Laufzeitverlängerung verloren die Aktien der Atomkonzerne Eon und RWE am Montag kräftig.
Mit der Laufzeitverlängerung hatten Union und FDP jedem der 17 Atomkraftwerke bestimmte neue Reststrommengen zugestanden. Dies ergab in Jahre umgerechnet für die sieben bis 1980 ans Netz gegangenen AKW acht Jahre längere Laufzeiten und für die anderen 14 Jahre mehr.
Merkel sagte: „Damit kein Zweifel entsteht: Die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium.“ Angesichts der Katastrophe in Japan will sie auch auf internationaler Ebene eine Debatte über die Kernkraft. „Sicherheit steht über allem“, sagte Merkel. „Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“
Solche Erdbeben und Flutwellen wie in Japan seien in Deutschland zwar nicht wahrscheinlich, sagte die Kanzlerin. Dennoch zeigten die Ereignisse in Japan, dass für unmöglich gehaltene Risiken eintreten könnten. Deshalb sollen alle Meiler im Lichte der Erkenntnisse aus Japan von unabhängigen Experten geprüft werden. „Es gibt bei dieser Sicherheitsprüfung keine Tabus.“ Dabei gehe es zum Beispiel um die Kühlsysteme. Erst dann folgten Entscheidungen.
Die Spitzen der Koalitionsfraktionen unterstützen die Regierungsvereinbarung für ein Moratorium bei der Verlängerung der Atomlaufzeiten. Nach dpa-Informationen halten sie grundsätzlich aber an dem schwarz-gelben Energiekonzept fest, das auf lange Sicht noch einen Mix aus Kernenergie und alternativen Energiequellen vorsieht. In den Fraktionsvorständen von CDU/CSU und FDP wurde am Montag über einen entsprechenden gemeinsamen Antrag beraten, der bei der Debatte im Bundestag über die Folgen von Japan eingebracht werden soll.
Röttgen sagte: „Erstens bedeutet die Erfahrung von Japan, dass Verlängerung von Laufzeiten Verlängerung von Restrisiko ist. Und Restrisiko ist seit Japan nicht mehr nur eine statistische Größe, sondern eine schreckliche Lebenserfahrung.“ Damit sei „die Beherrschbarkeit der Technologie grundlegend infrage gestellt“. Röttgen hatte sich im Herbst innerhalb der Koalition für kürzere Restlaufzeiten eingesetzt. Die Frage, grundsätzlich von der Kernkraft abzurücken, sei ein Thema, das zur Debatte stehe.
Für die Aussetzung der Laufzeitverlängerung ist nach Merkels Ansicht keine Gesetzesänderung nötig. Über die Pläne für die Abschaltung älterer Anlagen will sie erst mit den Energiekonzernen reden. Voraussichtlich am Freitag will Merkel im Bundestag eine Regierungserklärung abgeben. Westerwelle sagte, der Ausstieg aus der Atomenergie in Richtung erneuerbarer Energien müsse beschleunigt werden.
Die Koalition will noch nicht auf die Atomkraft verzichten. Merkel sprach weiter von einer Brücke hin zu Öko-Energien. Am 20. März wird in Sachsen-Anhalt und am 27. März in Baden-Württemberg sowie Rheinland-Pfalz ein neuer Landtag gewählt. Die Anti-AKW-Bewegung will am Samstag (26. März) in vier deutschen Großstädten gegen die Atompolitik der Bundesregierung protestieren. Im Gespräch sind Berlin, Köln, Hamburg und eine Stadt im Süden.
In Baden-Württemberg wollten Fachleute am Montag mit einem Sicherheitscheck der Meiler beginnen. Das rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen möchte über den Bundesrat einen Ausstieg aus der Atomenergie einleiten. EU-Energiekommissar Günther Oettinger sagte der Nachrichtenagentur dpa: „Die Energiepolitik beginnt jetzt von Grund auf neu.“ Das Undenkbare sei eingetreten.
Die SPD-Spitze verlangte erneut einen schnellen Ausstieg aus der Atomenergie. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel warf Merkel im ZDF vor, das Moratorium sei lediglich „ein Trick, um über die Landtagswahlen zu kommen“. Merkel gehe „taktisch mit den Sorgen der Bevölkerung um“. Die Grünen-Bundestagsfraktion verlangte, die sieben ältesten Atomkraftwerke in Deutschland stillzulegen. Sie kündigte ein Gesetz dazu an. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin warf Merkel vor, mit einem unklaren Moratorium über die Landtagswahlen zu kommen.