Opfer warten auf die Politik
Bund und Länder streiten über den Hilfsfonds in Höhe von 100 Millionen Euro. Ein Gesetz dümpelt vor sich hin.
Berlin. Gut ein Jahr nach seinem Abschlussbericht zog der „Runde Tisch sexueller Kindesmissbrauch“ gestern in Berlin eine erste Bilanz der Umsetzung seiner Vorschläge. Sie fiel schlecht aus, weil das Thema in den parteipolitischen Streit geraten ist.
Deswegen gibt es den ursprünglich noch einvernehmlich beschlossenen Hilfsfonds im Umfang von 100 Millionen Euro für Opfer familiärer sexueller Gewalt bis heute ebenso wenig wie ein gültiges Gesetz zur rechtlichen Verbesserung der Situation der Missbrauchsopfer.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hängt seit Sommer 2011 im Rechtsausschuss des Bundestages, obwohl Schwarz-Gelb dort eine Mehrheit hat. Er sieht vor, dass die Verjährungsfristen im Strafrecht von drei auf 20 Jahre und im Zivilrecht auf 30 Jahre verlängert werden. Und sie sollen erst mit dem 21. Lebensjahr beginnen, weil viele Opfer sich erst später trauen, ihre Peiniger anzuzeigen.
Doch die Fachpolitiker von CDU und FDP haben sich, so ein Ministerialbeamter, „in Detailfragen verhakt“. Gestern rief Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) die Abgeordneten zur Disziplin: „Das Opferschutzgesetz muss noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden.“
Vor allem die Bundesländer benutzen die Verzögerung als Argument, um — mit Ausnahme Bayerns und Mecklenburg-Vorpommerns — ihrerseits das zweite wichtige Element der Beschlüsse zu blockieren, einen je zur Hälfte von Bund und Ländern finanzierten Fonds in Höhe von 100 Millionen Euro, aus dem Opfer von sexuellem Missbrauch in Familien oder im privaten Umfeld unbürokratisch Therapien bezahlt bekommen sollen.
Familienministerin Kristina Schröder (CDU) appellierte gestern erneut an die Länder, dem Fonds beizutreten. Der Bund werde seine 50 Millionen Euro zur Not auch ohne diese freigeben. „Die Betroffenen warten dringend darauf, dass es losgeht“, sagte die Familienministerin.
Für die Opfer von Missbrauch in Sportvereinen oder kirchlichen Institutionen sollen deren Dachorganisationen aufkommen. Laut Schröder seien entsprechende Vereinbarungen praktisch unterschriftsreif.
Die Missbrauchsdebatte hatte 2010 begonnen, nachdem das Ausmaß der Übergriffe an der Odenwald-Schule sowie an katholischen Internaten bekanntgeworden war. Die Bundesregierung hatte die Aufarbeitung jedoch bald auch auf den familiären Bereich ausgedehnt, was einige Teilnehmer des Runden Tisches als Ursache vieler der jetzigen Probleme ansehen.
Andere Hilfsmaßnahmen sind besser angelaufen als der Hilfsfonds. So nimmt bald eine „Clearingstelle“ für Opferanträge ihre Arbeit auf. Ein Kinderschutzgesetz trat 2012 in Kraft, die Strafverfolgungsbehörden wurden sensibilisiert. Beim Familienministerium wurde zudem die Stelle eines „Unabhängigen Beauftragten“ geschaffen, der unter dem Notfalltelefon 0800/22 55 530 kostenlos zu erreichen ist.