Politik Sarrazin will Juden, Muslime und Christen in Kriminalstatistik zählen

Thilo Sarrazin fordert in seinem heute erscheinenden Buch „Feindliche Übernahme“, künftig Religionszugehörigkeit in der Kriminalitätsstatistik auszuweisen. Neben dem Islam greift er die Kirchen an.

Thilo Sarrazin (Archivbild).

Foto: Andreas Fischer

Berlin. Thilo Sarrazin ist im Krieg. Schon im Untertitel seines neuen Buchs „Feindliche Übernahme“, das sein bisheriger Verlag Random House trotz Gewinnaussicht in mehrstelliger Millionenhöhe nicht veröffentlicht hat, wird deutlich, was seine Leser auf den kommenden 450 Seiten erwartet: Eine Sammlung angeblicher Belege des Berliner Ex-Finanzsenators, Ex-Deutsche-Bahn-Vorstands und Ex-Bundesbankvorstands „Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“. Und wie bereits in seinen vorherigen Büchern, weiß Sarrazin natürlich, wie dieser Bedrohung zu begegnen ist. Die Kurzantwort: Indem man den Islam und seine Anhänger kriminalisiert — aber nicht nur diese.

Denn wie die AfD auf Kriegsfuß mit den „Flüchtlingsfreunden“ der christlichen Kirchen steht und deren Offizielle sich umgekehrt klar von den Rassisten abgrenzen, hat auch Sarrazin die Kirchen als Gegner ausgemacht: „Wo Vertreter christlicher Religionen in falsch verstandener Solidarität problematische Aspekte des Islam verdrängen oder herunterspielen, gehört zur Islamkritik auch die Kritik an den Vertretern christlicher Kirchen“, schreibt Sarrazin ganz am Ende seines Buches. Immerhin lässt der einst protestantisch getaufte bekennende Laizist keinen Zweifel daran, was er mit dem „christlichen Abendland“ am Hut hat: gar nichts.

Deshalb will Sarrazin mit listiger Begründung nicht nur den muslimischen Religionsunterricht abschaffen („Eine liberale Einstellung der muslimischen Schüler, die das Religiöse im Ungefähren lässt, wird also schon durch den Umstand bedroht, dass überhaupt islamischer Religionsunterricht angeboten wird“), sondern gleich jeden: „Der beste Weg zur Gleichbehandlung der Religionen beim konfessionsgebundenen staatlichen Religionsunterricht besteht in dessen Abschaffung. Es handelt sich sowieso um einen überständigen Rest deutschen Staatskirchentums, der zudem das schnelle Schwinden der religiösen Präsenz christlicher Kirchen nicht einmal aufhalten konnte.“

Mehr als 400 Seiten dauert es, bis der inzwischen 73-jährige Auflagen-Millionär zur wenig originellen Kernthese seines Buches kommt: „Bei unveränderter demografischer Dynamik und unveränderter Einwanderung ist der Islam in Deutschland und Europa langfristig auf dem Weg zur Mehrheitsreligion. Muslime werden in zwei bis drei Generationen die Bevölkerungsmehrheit stellen, wenn es keinen Kurswechsel in der Einwanderungs- und Integrationspolitik gibt. Vorsorgliche opportunistische Anpassungen sind in der deutschen Gesellschaft schon vielerorts spürbar.“

In den Kapiteln davor arbeitet Sarrazin sich an der grundsätzlichen Schlechtigkeit des Islams in der ihm eigenen schwer lesbaren Erzählweise ab, die Andreas Fanizadeh in der „taz“ treffend so beschreibt: „Es ist gar nicht so sehr, was er sagt, sondern wie er es sagt. Dieser kleinkarierte Ton des Miesepeters. Des Besserwissers, der mit Halbwissen auftrumpft und sich so gerne selber reden hört. Penibel, stur, unglaublich von sich überzeugt.“ Und das reichlich grundlos, denn wie auch bei seinen vorherigen Büchern entpuppt sich sein mit groteskem Stolz vorgetragenes Bildungsbürger-Gehabe weit häufiger als ergoogeltes Viertel-Wissen, als es einer seriösen Argumentation zuträglich ist. Auch halten seine Verallgemeinerungen (Beispiele: „In großen Teilen der muslimischen Welt werden die jungen Mädchen beschnitten“; „Überall in der islamischen Welt können Frauen ihr Kopftuch nicht ablegen, ohne in höchste Gefahr zu geraten“; „Gegenwärtig dringt überall in der islamischen Welt die islamistische Radikalisierung vor“) im Detail regelmäßig keiner Überprüfung stand.

Und so kippt Thilo Sarrazin seiner Anhängerschaft zehn Jahre nach dem rassistischen Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ einfach einen neuen Kübel Hetz-Beton zur Weltbild-Stabilisierung in die Filterblase: Der Islam ist schlecht, böse und gefährlich. Die Religion des Islam gleich welcher Ausprägung erziehe nämlich zu einer bestimmten Weltsicht: „Diese ist dem selbstständigen Denken grundsätzlich abhold. Sie begünstigt Autoritätshörigkeit und Gewaltbereitschaft. Sie befördert eine Tendenz zum Beleidigtsein und zur Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Sie behindert Wissbegier und Veränderungsbereitschaft. Sie belastet das Verhältnis der Geschlechter. Sie behindert die Emanzipation der Frau, sie stützt Unbildung, frühe Heirat und Kinderreichtum. Sie fördert Rückständigkeit, behindert Meinungsfreiheit und Demokratie. Sie ist eine schwere Hypothek für die Zukunft der islamischen Welt. Weil aber die islamische Welt wegen der durch den Islam beförderten Rückständigkeit weitaus fruchtbarer ist als die westliche Welt, ist die dem Islam innewohnende demografische Sprengkraft über Kriege und Einwanderungsdruck gleichzeitig eine Bedrohung für die Zukunft und die Stabilität der westlichen Welt.“

Vor zehn Jahren machte Sarrazin noch den Fehler, seine rassistischen Behauptungen der Minderwertigkeit von muslimischen Zuwanderern (und übrigens auch von Katholiken, die aus biologischen Gründen dümmer seien als Protestanten) mit kruden Genetik-Argumenten zu untermauern, die auch der NS-Literatur hätten entnommen sein können. „So spielen bei Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen — bedingt durch die dort übliche Heirat zwischen Verwandten — eine erhebliche Rolle und sorgen für einen überdurchschnittlichen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten“, hieß es da (in späteren Auflagen gestrichen). Auf solche Ausflüge in die völkische Genetik verzichtet Sarrazin inzwischen. Nun heißt es etwas weniger angreifbar: „Solange man Unterschiede in der angeborenen Intelligenz ausschließt, spricht also alles dafür, dass die signifikant unterdurchschnittliche Bildungsleistung der Muslime in Europa kulturell bedingt ist und letztlich in der Religion und dem durch sie geprägten kulturellen Umfeld wurzelt. Die Tatsache dieses Rückstands ist leider unumstößlich.“

Was Sarrazin als „unumstößlich“ ausgibt, hat nicht unbedingt mit der Wirklichkeit zu tun. Seiner vorgeblichen Arbeitsweise („Dazu sammle ich verfügbare Fakten und interpretiere ihren inneren Zusammenhang“) ist leider nicht zu trauen. In dem geistigen Exil, aus dem heraus Thilo Sarrazin sein Millionen-Publikum bedient, dürfte Wasser niemals kochen. Es kocht nämlich bei 30 Grad nicht und auch nicht bei 50. Nicht einmal bei 70 Grad kocht es.

Es sind „Beweisführungen“ solcher Art, garniert mit schlichten Analogie-Fehlschlüssen und unüberprüfbaren Excel-Tabellen „eigener Berechnungen“, die das Buch als Debatten-Beitrag untauglich machen. Bei Sarrazins ständiger Grundannahme „unveränderter“ Dynamik, Entwicklung oder was auch immer, kurz: einer Zukunft als plumper Fortschreibung der Gegenwart, wird Wasser auch bei 100 Grad nicht kochen, weil es das bei 30, 50 und 70 Grad nicht getan hat. In der Wirklichkeit kommt es bekanntlich anders.

Sarrazins beliebtester Trick ist es, seine Behauptungen mit Zitaten zu belegen — jedoch nur mit solchen, die ihm in den Kram passen, und auch alle Auffassungen des jeweils Zitierten wegzulassen, die seinen Ansichten widersprechen. Man könne, beruft sich Sarrazin beispielsweise auf den Soziologen Georg W. Oesterdiekhoff, unterstellen, „dass die Gesellschaften der islamischen Länder und ihre Menschen in der Summe der Kindheitsphase der Menschheit noch näher stehen als die Länder des Westens und Ostasiens.“ Der Gladbecker Soziologe Oesterdiekhoff vertritt in der Tat eine Theorie, laut der (grob vereinfacht) menschliche Kulturen eine Entwicklung durchlaufen, die der psychischen Entwicklung eines Menschen von der Kindheitsphase zur Erwachsenenreife entspricht.

Demnach befanden oder befinden sich Menschen in vormodernen Gesellschaften auf dem Stand eines Sechsjährigen. Was Sarrazin freilich weglässt, weil sie ihn stören oder er sie gar nicht erst kennt, sind Oesterdiekhoff-Äußerungen wie diese: „Die empirischen Untersuchungen zeigen, dass es z. B. in Europa, den USA und Japan während des ganzen 20. Jahrhunderts einen fortlaufenden Bedeutungsschwund der Religion gegeben hat. (...) Muslime in Deutschland sind von dem Glaubensverlust in ähnlicher Weise betroffen.“ Blöd für Sarrazins These: Wenn die Religiosität nachlässt, wie kann sie dann in einer „feindlichen Übernahme“ münden?

Sarrazin ist nicht so dämlich, im Stile eines rechtsextremistischen Dortmunder Ratsmitglieds eine „Judenzählung“ zu fordern. Stattdessen verpackt er die beabsichtigte Diskriminierung in einer Gleichschlechtbehandlung aller Religionen: In allen amtlichen Statistiken will Sarrazin Muslime, Juden und Christen zählen lassen, „auch für die polizeiliche Kriminalitätsstatistik“. Der von Sarrazin erhoffte Effekt: „Wenn Jahr für Jahr amtlich gezeigt wird, wo die gläubigen Muslime soziökonomisch stehen, wird dies, positiv oder negativ, für das Prestige des Islam und damit für seinen gesellschaftlichen Einfluss nicht folgenlos sein.“

Sarrazins früherer Verleger bei Random House hat in der „Zeit“ zu Begründung, das Buch nicht herauszubringen, erklärt, es berge die Gefahr, dass „antimuslimische Ressentiments verstärkt werden“. Eine erstaunlich späte Erkenntnis. Hatte Sarrazin denn je ein anderes Ziel?

Thilo Sarrazin: Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht. FinanzBuch Verlag, 450 Seiten, 24,99 Euro