Schulz-Effekt Schwere Geburt — die SPD und ihr Wahlprogramm
Schulz-Effekt verpufft, Wahlpleiten, miese Umfragen: Gelingt der programmatisch große Wurf, den der Parteichef versprochen hat?
Berlin. Die SPD-Spitze muss raus. Es ist kurz vor 10 Uhr. In zehn Minuten sollen die Beratungen zum Wahlprogramm beginnen. Natürlich ist Kanzlerkandidat Martin Schulz mit von der Partie. Dann wird plötzlich Alarm ausgelöst. In der Poststelle des Willy-Brandt-Hauses liegt ein merkwürdiger Gegenstand. Die Polizei ist unterwegs. Sirenen heulen im Gebäude. Minister, Spitzenbeamte und ihre Mitarbeiter müssen fast eineinhalb Stunden auf dem Bürgersteig ausharren. Später stellt sich heraus, es ist zum Glück keine Bombe, sondern ein selbst gebauter Holzkasten, den vermutlich ein Spaßvogel an die SPD geschickt hat.
SPD-Vize Ralf Stegner, selten um einen Spruch verlegen, sagt, es habe sich ganz offensichtlich nicht um jene „Bömbchen“ gehandelt, die in den unzähligen Änderungswünschen aus dem Parteivorstand am Schulz-Programm steckten.
Die Genossen sind nicht zu beneiden. Der Schulz-Hype ist vorbei. Die Umfragen sind auf Normalmaß geschrumpft. Drei Landtagswahlen gingen verloren. Der Verlust ihrer Herzkammer Nordrhein-Westfalen an die CDU war ein herber Schlag. Aber die älteste deutsche Partei hat schon ganz andere Sachen weggesteckt. Bis zur Bundestagswahl am 24. September kann noch viel passieren.
Gut vier Stunden nach dem Bombenalarm haben Generalsekretärin Katarina Barley, Fraktionschef Thomas Oppermann und Familienministerin Manuela Schwesig die Presse im 4. Stock zusammengetrommelt. Sie haben 71 Seiten mitgebracht. Ergebnis von zwei Jahren Beratung. Überschrift: „Mehr Zeit für Gerechtigkeit“. Im Frühjahr hätte das unter den vielen Schulz-Jüngern in der SPD-Welt noch Ekstase ausgelöst. Nun ist die Partei bemüht, ihr Angebot an die Wähler nicht mehr allein unter dem Slogan der Gerechtigkeit zu verkaufen.
Die NRW-Wahl hat gezeigt, dass die Angst vor Verbrechen, vor Terroristen, der Frust über kaputte Schulen und Straßen die Menschen im Alltag sehr bewegt. Hannelore Kraft wurde auch abgestraft, weil sie hier wohl zu vage blieb.
Vage ist ein Thomas Oppermann nie. Der Niedersachse führt mal wieder die Abteilung Attacke an. Innere Sicherheit die Achillesferse der SPD? Quatsch. Die Union plustere sich auf, dabei habe CDU-Innenminister Thomas de Maizière den Skandal um den mutmaßlichen rechten Bundeswehr- Terroristen Franco A. zu verantworten. De Maizière nehme hin, dass „Teile seiner ihm unterstellten Verwaltung verlottern“, sagt Oppermann, der selbst gerne Innenminister wäre.
Einiges, was die SPD aufgeschrieben hat (gebührenfreie Kitas, Ganztagsschulplätze), könnte durchaus das Leben von Familien und Arbeitnehmern erleichtern, ist tatsächlich ein „Kontrastprogramm“ zu CDU und CSU. Aber was ist mit Steuern und Rente? Hier geht jeder Vorschlag gleich in die Milliarden. Das Rentenkonzept von Andrea Nahles — Rentenniveau bei um die 48 Prozent stabilisieren, Beiträge bei 22 bis 23 Prozent halten, so die Überlegungen — soll vor dem Dortmunder Sonderparteitag am 25. Juni feststehen.
Bei den Steuern bislang nur so viel: Reiche sollen mehr zahlen, Geringverdiener und Facharbeiter weniger, der Spitzensteuersatz von 42 Prozent später greifen. Mehr will die SPD nicht preisgeben. Erst soll die Union vorlegen. Die SPD hofft, Angela Merkel und Horst Seehofer kriegen sich wie bei den Flüchtlingen beim Entlastungsvolumen in die Haare. „Wuchtige“ Steuersenkungen hat Seehofer angekündigt; konkret gehe anders, heißt es bei der SPD.
Aber ist das eine kluge Strategie? Die Delegierten beim SPD-Parteitag sollen ein Programm abnicken, dessen Steuerteil noch nicht mit Zahlen unterfüttert ist? Und kann es sich ein Herausforderer wie Schulz erlauben, inhaltlich noch Wochen auf die Kanzlerin zu warten, die von Gipfel zu Gipfel eilt und wieder wachsende Zustimmung erfährt?
Schulz übrigens äußert sich an diesem turbulenten SPD-Tag überhaupt nicht zum Programm, das dem Kandidaten doch auf den Leib geschneidert sein soll. Er hebt lediglich hervor, die Parteispitze habe es einstimmig gebilligt. „Alle Termine heute für mich waren schön“, sagt er. Der Weg zum Kanzleramt aber ist noch weit — mit ungewissem Ausgang.