Politik Sigmar Gabriel: Bergab für den großen Aufstieg

Vizekanzler Sigmar Gabriel blickt in Oberhausen auf den Emscher-Umbau. Dabei fordert er die Republik zu Solidarität mit dem Ruhrgebiet auf.

SPD-Chef Sigmar Gabriel (M) besichtigt mit NRW-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD, r) in Oberhausen eine Großbaustelle unter Tage.

Foto: Caroline Seidel

Oberhausen. 38 Meter geht es hinunter in die Baugrube, zum Tunnel des Abwasserkanals Emscher. Der Emscher-Umbau ist das größte Infrastrukturprojekt der Region. Sigmar Gabriel hat sich den Schutzhelm aufgesetzt, Schutzweste und Gummistiefel angezogen. Dann geht es steil nach unten im provisorischen Fahrstuhl, ein, zwei Blicke in die Kanalisation für das größte Bauprojekt, der Renaturierung der Emscher. Ein zwei Erklärungen. Wenige Minuten später ist der Vizekanzler schon wieder oben. Nicht zu viel Zeit verlieren, es muss jetzt schnell wieder bergauf gehen, hier, am Rande von Oberhausen auf der großen Baustelle. Und auch mit ihm und der SPD.

Hier würden zwar über Jahrzehnte rund 4,5 Milliarden Euro verbaut, sagt Gabriel. "Aber unter der Erde." Dabei geht es ihm doch jetzt darum, dass die Menschen direkt vor Augen bekommen, dass es vorangeht. Innere und soziale Sicherheit brauche es. Funktionierende Ämter, sichtbare Polizei, die Menschen wollen, dass "ihr Leben wieder in Ordnung ist", sagt er. Vor allem im Ruhrgebiet, wo der Strukturwandel eigentlich eine Strukturkrise ist. Und wo die Menschen für den Strukturwandel, sagt Gabriel gewohnt griffig, ja eigentlich zweimal bezahlen: "Für Ihren eigenen und den im Osten." Da gebe es doch so etwas wie eine moralische Verantwortung innerhalb der Republik für das Ruhrgebiet, sagt Gabriel. Jetzt, wo er schon mal da ist und das "industrielle Herz" der Bundesrepublik besucht, diese "besondere Region", die das "siebtgrößte Land der EU wäre", in dem "25 Prozent aller deutschen Investitionen landen".

Kein Zweifel: Gabriel wird die Menschen hier brauchen, 45000 der 110000 SPD-Mitglieder leben hier. Und er wird die NRW-SPD brauchen, er braucht die Unterstützung aus der "Herzkammer der Partei", und er braucht ein gutes Wahlergebnis in neun Monaten hier in NRW, weil kurz danach die Bundesprüfung im Herbst 2017 ansteht. Längst hat der Wirtschaftsministern auf Wahlkampf geschaltet, auch deswegen ist der Vizekanzler der Einladung von Fraktionschef Norbert Römer für eine zweitägige Tour durch NRW gefolgt. Im Schlepptau mit dabei: NRW-Bauminister Michael Groschek. Gabriel nennt ihn "Mike".

Gabriel hat viele Ideen, und er formuliert sie fix, das ist seine große Stärke und seine große Schwäche zugleich. Weil sich nicht alles lange hält in seinem Kosmos, und es deshalb nicht immer ganz ernst genommen wird. Seine Ideen für das Ruhrgebiet: Die ärmsten Stadtteile müssen die besten Schulen bekommen, nach der Wahl will er für die Schulsanierungen die Abgeltungssteuer abschaffen. Schnelles Internet und Digitalisierung für Gewerbegebiete und die schwächsten Stadtteile: "Dann siedeln sich die jungen Firmen dort schneller an.“ Es müsse ein Strukturwandel auch im Stadtbild her, und es brauche den zweiten Arbeitsmarkt, weil es zu viele gebe, die auf dem ersten Markt keine Chance mehr haben. "Soziale Betriebe" will er dafür künftig länger fördern. Römer springt ihm zur Seite und fordert Finanzminister Schäuble auf, endlich "Arbeit zu finanzieren, statt Arbeitslosigkeit zu bezahlen". Laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands ist das Ruhrgebiet die Armutsregion Nummer 1, jeder fünfte muss hier zu den Armen gezählt werden. Zehn Prozent beträgt die Arbeitslosigkeit. Zum Vergleich: Sechs Prozent sind es im Rest der Republik. Es geht für Gabriel auch darum, hier Präsenz zu zeigen, weil die AfD inzwischen in Umfragen bei rund zwölf Prozent liegt. Auch deswegen rückt die SPD unter ihm tatsächlich in diesen Monaten immer weiter nach links. Er sieht darin eine, er sieht darin seine Chance. Andere halten ihm wieder Wankelmut vor, weil er dafür noch im vergangenen Jahr nicht zur Verfügung stehen wollte: "Dafür stehe ich nicht."

Gabriel ist braun gebrannt, ausgebrannt wirkt er überhaupt nicht, stattdessen ideenreicher als je zuvor. Er geht gerade voran, er hat den Wahlkampf eröffnet. Gleich am Morgen wurde die Idee mit der Energiepreis-Steuer aus dem Wirtschaftsministerium bekannt. Am Nachmittag fängt Gabriel die größte Aufregung schon wieder ein. Das Grünbuch stelle fragen und eröffne die Debatte. Mehr, bitte schön, nicht. So funktioniert er noch immer: Tür auf, ein Schuss in den Taubenschlag - und Stunden später nachschauen, ob noch alle Tiere auf der Stange sitzen. Versprechen will er nur noch wenig. "Das dann aber halten". Wie die SPD, sagt er, eben aktuell das sehr exakt und erfolgreich abarbeite, was sie im Koalitionsvertrag ausgehandelt habe. Gabriel hat umgeschaltet, um den Kanzlerkandidaten soll sich keiner mehr sorgen, jetzt, wo die Werte von Angela Merkel sinken, muss er da sein. Und ein verlässlicher Kümmerer werden, den ihm die Wähler so lange nicht abgenommen haben: Gabriels persönliche Werte sind fast immer bescheiden, nur 15 Prozent der Deutschen wollten den SPD-Chef zuletzt als Kanzler sehen. Auch deshalb soll im Wahlkampf weniger personalisiert werden, sondern mit Inhalten und starken Köpfen um ihn herum gekämpft werden. Ob das reicht? Was ist das Motto für die Wahl 2017 will einer in Gelsenkirchen am Abend wissen, wo Bürger Gabriel befragen. "Gewinnen", sagt er. Und lächelt.