GroKo-Theater Tollhaus SPD und Nahles' Fehlstart
Berlin (dpa) - Er hat Berlin verlassen und wird in den nächsten Tagen das Kämmerlein des SPD-Vorsitzenden hoch oben im Willy-Brandt-Haus wohl räumen. Martin Schulz hat gekämpft wie ein Löwe für eine rote Handschrift im Koalitionsvertrag mit der Union.
Der Mann aus Würselen wollte als Außenminister und Vizekanzler der Koalition den Stempel aufdrücken. Demnächst ist er nur noch Abgeordneter. In 155 Jahren hat die älteste Partei Deutschlands schon viele Stürme überstanden - aber eine so desaströse Woche hat auch die SPD eher selten erlebt.
Der gestürzte Schulz schweigt am Wochenende. Dafür meldet sich seine Schwester Doris Harst via „Welt am Sonntag“ zu Wort, wettert gegen die „Schlangengrube Berlin“. „Andrea Nahles, Olaf Scholz und andere machen ihn zum Sündenbock für alles.“ Ihr Bruder sei nur belogen und betrogen worden. Er habe nach der erfolgreichen Zeit als Präsident des Europaparlaments die Berliner Verhältnisse völlig unterschätzt.
Wahrscheinlich wird Schulz nun nicht erst nach dem Mitgliedervotum über die große Koalition den Vorsitz kommissarisch an Andrea Nahles abgeben, sondern bereits am Dienstag. Dann könnte er letztmals als SPD-Chef im Willy-Brandt-Haus auftreten. Und über das Aushecken des Wechsels im kleinen Kreis gibt es auch zunehmend Unmut.
Eigentlich wollten Nahles und Schulz auf sieben Regionalkonferenzen für ein Ja zur GroKo werben. Auch das steht nun zur Disposition. „Nach derzeitigem Stand ja“, sagt eine Sprecherin auf die Frage, ob Schulz noch dabei sei. Während Generalsekretär Lars Klingbeil allen mit der Roten Karte droht, die weitere Personaldebatten anzetteln.
So wie es drunter und drüber geht, fragt sich mancher, ob der Partei nicht ein paar der von Helmut Schmidt gepredigten Sekundärtugenden wie Pflichtgefühl, Berechenbarkeit und Disziplin guttun würden. Es herrscht Entsetzen - statt mit stolzer Brust ob der Verbesserungen bei Pflege, Rente und Bildung und dem Erringen von Finanz-, Außen und Arbeitsministerium bei den 463 000 Mitgliedern um eine Zustimmung zum Koalitionsvertrag mit CDU/CSU zu werben. 67 Prozent der Bürger halten die SPD laut einer t-online.de-Umfrage nicht für regierungsfähig.
Da ist zunächst der grandios gescheiterte Plan des Martin Schulz. Der sah so aus: Er gibt wegen der Debatten um seine Person und des Umfrageabsturzes auf 17 Prozent den Vorsitz ab, darf sich aber den Traum vom Außenministerium erfüllen. Scheinbar noch unwissend, welchen Proteststurm der Außenministerplan an der Basis auslösen würde, sagte er am Donnerstag der „Bild am Sonntag“: „Wir sind kein Nonnenkloster, aber wie die Union miteinander umgeht, da kann man schon Mitleid bekommen.“ Mitleid haben nun viele mit Schulz.
Denn kurz danach kam via Medien der Frontalangriff des amtierenden Außenministers Sigmar Gabriel. Einst waren beide Freunde - jetzt fühlte der sich herausgemobbt. Und es kam zur Basis-Rebellion. Denn Schulz hatte nach der Wahl klar gesagt, niemals in ein Kabinett von Angela Merkel einzutreten. Am Freitag erklärte er schriftlich den Verzicht auf das Regierungsamt. Vor allem aus Nordrhein-Westfalen hatte es enormen Widerstand gegeben; die Rochade drohte das SPD-Mitgliedervotum akut zu gefährden.
Geht die Abstimmung (20. Februar bis 2. März) schief und es kommt zur Neuwahl, muss die SPD fürchten, dass die AfD sie überholt. Das Ganze lenkt den Blick weg von der nicht minder schwierigen Lage für Merkel, die intern in die Kritik geraten ist, weil sie einer 20-Prozent-Partei gleich drei Schlüsselministerien überlassen hat.
Und die SPD wird mächtig sparen müssen: Ein Parteitag im Dezember, ein Sonderparteitag, der grünes Licht für die Koalitionsverhandlungen gab. Nun der Mitgliederentscheid. Spätestens im Mai ein weiterer Sonderparteitag, der Nahles zur SPD-Chefin wählen soll. Das kann alles vier bis fünf Millionen Euro kosten. Dazu gibt es wegen des Wahlergebnisses deutlich weniger Geld aus der Parteienfinanzierung.
In Europa wird das Drama aufmerksam registriert. Auch Merkel kann das nicht gefallen. Schon vor dem Start der großen Koalition wird der Eindruck einer hochfragilen Regierung erweckt. In Anlehnung an die Kunstfigur von David Bowie schreibt die italienische Zeitung „La Repubblica“, Schulz sei der „Ziggy Stardust“ der deutschen Politik. „Der Alien, der vor einem Jahr von Brüssel nach Berlin katapultiert wurde und wie ein Gott einer führungslosen Partei gefeiert wurde. Er wurde in tausend Stücke gerissen.“ Er sei der „perfekte Sündenbock“ für eine Partei, die seit zehn Jahren in der Identitätskrise stecke.
Der steile Aufstieg und tiefe Fall des Martin Schulz ist Stoff fürs Theater, Stilform: Drama. Nahles und ihr neuer starker Partner Olaf Scholz, der Vizekanzler und Finanzminister werden soll, müssen sich aber fragen lassen, welche Rolle sie beim Schulz-Plan gespielt haben.
Sie unterstützten ja die Idee, dass Schulz nach dem Außenministerium greift und Gabriel, den beliebtesten SPD-Politiker, ausbootet. Dieser machte aus seinem Herzen keine Mördergrube - und nahm sich damit wohl endgültig selbst aus dem Spiel. Vor allem das Instrumentalisieren seiner Tochter wird ihm in der Partei als Boshaftigkeit ausgelegt.
„Meine kleine Tochter Marie hat mir heute früh gesagt: „Du musst nicht traurig sein, Papa, jetzt hast Du doch mehr Zeit mit uns. Das ist doch besser als mit dem Mann mit den Haaren im Gesicht““, hatte Gabriel am Donnerstag der Funke-Mediengruppe gesagt. Ohne diesen gegen Schulz gerichteten Satz wäre es schwerer für Nahles, Gabriel auf das Abstellgleis zu schieben. „Männer, die für ihre persönlichen Machtkämpfe ihre Töchter benutzen - das ist der Zustand unserer politischen Elite in Deutschland. Erbärmlich“, kommentierte „Bild“.
Schulz war 44 Stunden der offizielle Bald-Außenminister. Bevor am Freitag um 14.14 Uhr die Mitteilung des Rückzugs kam. Zwischendurch war Andrea Nahles noch daheim in der Eifel und feierte Karneval. Verkleidet als Clown. Es sind wirklich tolle Tage bei der SPD.
Es stellt sich die Frage: Haben Nahles und Scholz die Stimmung völlig falsch eingeschätzt? Oder ließen sie Schulz bewusst ins Verderben laufen, um das unglückselige Kapitel schmerzhaft, aber zügig zu beenden? Beide wussten schon am Abend der Bundestagswahl, dass es mit ihm kaum weitergehen kann. Trotzdem unterstützten sie sogar noch seine Wiederwahl beim Parteitag im vergangenen Dezember.
Ein Neustart, ein unbelasteter Aufbruch mit neuen Köpfen ist das nicht. Hinzu kommt das Problem Gabriel. Nahles wie Scholz sind beide mit ihm durch: Als SPD-Chef zerschlug er viel Porzellan, Nahles litt als Generalsekretärin unter ihm. Schon 2016 stand es Spitz auf Knopf, dass Gabriel abgelöst wird. Doch dann heckte er den Plan aus, Vorsitz und Kanzlerkandidatur Schulz zu überlassen und selbst vom Wirtschafts- ins Außenministerium zu wechseln. Er wurde so beliebt wie nie zuvor.
Wie aber sollen die Bürger, die die Machtkämpfe in der Partei kaum noch nachvollziehen können und sich angewidert abwenden, verstehen, wenn er auch nach dem Schulz-Verzicht keine zweite Chance bekommt?
Gabriels haarige Aussage macht es etwas leichter. Als Kandidaten werden jetzt unter anderem der bisherige Justizminister Heiko Maas und Familienministerin Katarina Barley gehandelt. Via „Focus“ meldete sich Gabriels Jugendfreund Burkhard Siebert, Stadtrat in Goslar - er sieht beim wahrscheinlichen Abservieren Gabriels eine tragende Rolle von Nahles. „Man hat ihn wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen.“