Debatte Unter drei: Wie wollen wir das schaffen?

Angela Merkels „Wir schaffen das“ hätte das Zeug, in der Flüchtlingskrise das deutsche „Yes, we can“ zu werden. Doch hinter vorgehaltener Hand fürchtet sich die Politik vor der eigenen Bevölkerung und der Courage der Kanzlerin.

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Düsseldorf/Köln/Berlin. Noch zu Bonner Zeiten erfand der Verein der Bundespressekonferenz die bei Politikern beliebte Sprachregelung, Informationen „unter eins“, „unter zwei“ oder „unter drei“ an Journalisten weiterzugeben. Übersetzt bedeutet diese Unsitte: „Unter eins“ sind Info und Absender frei zitierbar. „Unter zwei“ heißt: Du darfst es schreiben, aber sag nicht, woher du das hast.

Seit Wochen finden — zumindest in NRW — Gespräche von Landes- und Bundespolitikern mit Journalisten zur Flüchtlingskrise fast nur noch „unter drei“ statt: Absender und Aussagen sind streng vertraulich; Journalisten dürfen sie wissen, aber nicht schreiben.

Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) konstatierte, angesichts der Flüchtlingswelle hätten Medien besonders in Deutschland die kritische Distanz verloren. Die Berichterstattung sei zur Stimmungsmache geraten. Die „Bild“-Zeitung agierte offen als Kampagnen-Organ. Für die ARD gab Tagesschau-Chefredakteur Kai Gniffke die Parole aus, ein besonderes Augenmerk auf Menschen, Initiativen und Organisationen zu legen, die sich „konstruktiv“ mit dem Thema auseinandersetzen.

Dies sei Teil des öffentlich-rechtlichen Auftrags: „Denn der sieht vor, dass unsere Nachrichten gesellschaftliche Teilhabe und Engagement fördern sollen.“ Die NZZ erblickte darin einen „monothematischen Überwältigungsjournalismus“, der nur eine zugelassene Haltung kenne.

Die blinden Flecken des Schweigens, die daraus inmitten seitenweiser und stundenlanger Berichterstattung entstehen, lassen jedoch längst vor aller Augen zutage treten, was sie eigentlich verbergen sollten: Große Teile der Politik sorgen sich, dass die positive Willkommens-Stimmung gegenüber der weitgehend unkontrollierten Zuwanderung demnächst umkippen und das Land spalten könnte.

Was passiert, wenn in irgendeiner Flüchtlingsunterkunft etwas Schlimmes geschieht. Wie der Turnverein reagiert, wenn er seine Halle doch nicht bis Weihnachten zurückbekommt. Und wenn die Konkurrenz um günstigen Wohnraum und Transferleistungen beginnt.

Das spielt vor allen jenen in die Hände, die — angeführt von Horst Seehofer — Merkels beherzte Öffnung der Grenzen für Tausende in Ungarn festsitzende Flüchtlinge am 6. September nicht für den Befreiungsschlag hin zu einer aktiven europäischen Flüchtlingspolitik, sondern für den größten Fehler ihrer Amtszeit und eine nationale Katastrophe halten.

Obwohl von der CSU in Auftrag gegeben, dürfte die am Dienstag präsentierte Umfrage nicht nur für Bayern zutreffen, dass 51 Prozent der Befragten sich um den derzeitigen Zustrom von Flüchtlingen sehr große oder große Sorgen machen. In einer Leserbefragung des „Hamburger Abendblatts“ (12.000 Teilnehmer) antworteten 79,7 Prozent mit „Ja“ auf die Frage, ob man die Zahl der in Hamburg aufzunehmenden Flüchtlinge begrenzen solle. 85,4 Prozent glauben, dass die Flüchtlinge Hamburg nachhaltig verändern werden.

Das Mitglieder-Magazin der „Senioren-Union“ titelte in dieser Woche „Flüchtlingspolitik: Das System steht vor dem Kollaps“. Der CDU-Bürgermeister von Heiligenhaus (knapp 27.000 Einwohner; ca. 420 Flüchtlinge) erklärte dazu im Heft wortreich, warum der Zusammenbruch des Systems nahe: „Das Kernproblem ist die wachsende Zahl von Menschen, die nach Asylrecht keinen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland erwarten dürfen, zugleich aber weder freiwillig noch gezwungenermaßen wieder ausreisen werden.“

Das Kernproblem der Kanzlerin mit ihrer Partei ist dagegen, dass Jan Heinisch nicht nur Bürgermeister von Heiligenhaus, sondern auch Präsidiumsmitglied des Städte- und Gemeindebundes sowie stellvertretender Vorsitzender der NRW-CDU ist.

Führenden Teilen der Christdemokraten ist offenbar die Erinnerung daran abhanden gekommen, dass große Integrationsleistungen in der Geschichte der Bundesrepublik häufig auf Initiative der CDU erfolgten. Es war die CDU, die sich maßgeblich dafür stark machte, deutschstämmige Aussiedler und Spätaussiedler in die Bundesrepublik einwandern zu lassen: 4,5 Millionen Menschen kamen zwischen 1950 und 2013 aus den Ländern des Ostblocks; rund zwei Millionen von ihnen erst seit 1990.

Den spektakulärsten Einwanderungs-Coup aber landete 1978 der niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht (1930-2014). „Das kann man ja nicht ertragen“, soll der Vater von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gesagt haben, als er die Elends-Bilder von südvietnamesischen "boat people" im Fernsehen sah.

Was folgte, ist legendär: Ohne jede Absprache mit dem Bund oder anderen Bundesländern garantierte Albrecht der malayischen Regierung, Niedersachen werde 1000 Flüchtlinge aufnehmen, wenn Malaysia sie bloß an Land lasse. Die Registrierung dieser ersten Flüchtlinge folgte dem Prinzip, das Angela Merkel Ende August vor der Bundespressekonferenz einforderte: „Deutsche Gründlichkeit ist super, aber es ist jetzt deutsche Flexibilität gefragt.“

Albrecht ließ von jedem Flüchtling ein Foto mit einer Schiefertafel machen, auf der Name, Geburtsdatum und eine Nummer standen — Formalitäten erledigt. Die ersten 163 Vietnamesen nahm Albrecht persönlich am Flughafen Hannover in Empfang und begrüßte sie mit den Worten: „Sie kommen in ein Land, in dem Sie mit Mut und Zuversicht an den Neuaufbau Ihres Lebens herangehen können.“

Es kamen schließlich knapp 40.000 südostasiatische Flüchtlinge, für die es — im Gegensatz zu den zuvor angeworbenen „Gastarbeitern“ — intensive Integrationsbemühungen gab, die sich bis Ende der 80er Jahre auf rund 52 Millionen D-Mark summierten. Aus der spontanen Hilfe entwickelte sich die erfolgreiche Strategie, internationale Hilfsaktionen (auch) als Mittel der deutschen Außenpolitik einzusetzen. Die Bundesrepublik wurde ein Land, das zu humanitären Gesten fähig war und Opfern von Krieg und Diktatur Zuflucht und Freiheit gewährte.

Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ hätte das Zeug, in der Flüchtlingskrise das deutsche „Yes, we can“ zu werden. Als am 10. September 1989 ein ungarischer Grenzsoldat den Stacheldraht durchknippste und den DDR-Flüchtlingen den Weg nach Österreich öffnete, begriff zunächst niemand, dass an diesem Stück Stacheldraht die gesamte DDR hing.

Wenn Angela Merkel Glück hat, wird der 6. September 2015 mit der Öffnung der Grenzen für die syrischen Ungarn-Flüchtlinge in der Rückschau späterer Jahrzehnte der Tag sein, an dem Europa begann, sich wieder auf seine Werte zu besinnen. Denn wenn nicht Deutschland als Land der Chancen und der Hoffnungen den europäischen Maßstab setzt — wer dann sollte es tun?

Um all das wird es am Donnerstag beim Flüchtlingsgipfel zwischen Bund und Ländern jedoch nicht gehen. Gehen wird es um Geld, Quoten und Zuständigkeiten. Als ob es mit der Abarbeitung von Unterbringung und der Beschleunigung von Asylverfahren getan wäre. Als ob es einfache Lösungen gäbe, wo es nun doch darauf ankäme, langfristige und langwierige Prozesse aktiv zu gestalten und zu steuern. Als ob ernsthaft in Frage stünde, ob wir das schaffen — und nicht ausschließlich: wie?