Maaßen legt keine Belege vor Verfassungsschutz-Chef zweifelt „Hetzjagden“ in Chemnitz an

Berlin (dpa) - Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen hat die Echtheit von Video-Aufnahmen aus Chemnitz bezweifelt und damit eine heftige Debatte über rassistische Übergriffe dort losgetreten.

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Berichte über „rechtsextremistische Hetzjagden“ in der sächsischen Stadt sehe er mit „Skepsis“, sagte er der „Bild“-Zeitung. Maaßen widersprach damit auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem Regierungssprecher Steffen Seibert - beide hatten von „Hetzjagden“ in Chemnitz gesprochen. Am Abend versicherte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), die Prüfung „möglicher „Hetzjagden“ von Rechtsextremisten gegen Migranten“ dauere an.

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Aus Sicht der meisten Bundestagsparteien hat sich Maaßen mit seiner unbelegten Einschätzung zu weit aus dem Fenster gelehnt. Auch aus der CDU kam Kritik. Linke und Grüne legten ihm den Rücktritt nahe.

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Zugleich wurde ein weiterer Vorfall bekannt, der sich bei den teils ausländerfeindlichen Protesten vor zwei Wochen in Chemnitz ereignet haben soll. Am Abend des 27. August sei das jüdische Restaurant „Schalom“ von etwa einem Dutzend Vermummter angegriffen worden, berichtet die „Welt am Sonntag“. Sie hätten „Hau ab aus Deutschland, Du Judensau“ gerufen und mit Steinen, Flaschen und einem abgesägten Stahlrohr geworfen. Der Eigentümer sei an der Schulter verletzt worden, eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen. Das Landeskriminalamt habe eine entsprechende Anzeige des Wirts bestätigt. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte dem Blatt, dass „derzeit eine politisch motivierte Tat mit einem antisemitischen Hintergrund naheliege“. Die Ermittlungen seien allerdings noch nicht abgeschlossen.

Auslöser der Proteste in Chemnitz war eine tödliche Messerattacke auf einen 35-jährigen Deutschen Ende August. Zwei Tatverdächtige, die als Asylbewerber nach Sachsen gekommen waren, sitzen wegen Verdachts des gemeinschaftlichen Totschlags in Untersuchungshaft. Nach einem Dritten, der aus dem Irak stammen soll, wird gefahndet. An einigen Protestveranstaltungen waren auch Rechtsextremisten und Holligans beteiligt. Es kam zu Übergriffen auf Polizisten, Journalisten und Ausländer.

Knapp zwei Wochen danach versammelten sich am Abend erneute Hunderte Demonstranten in Chemnitz. Nach Angaben der Polizei kamen zu einem Aufzug der rechtspopulistischen Bewegung „Pro Chemnitz“ rund 2350 Teilnehmer und zu einer Gegendemonstranten des Bündnisses „Chemnitz nazifrei“ 1000. Parallel dazu setzten die Kulturbetriebe der Stadt mit einem Open-Air-Konzert von Beethovens 9. Sinfonie ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit, Hetze und Gewalt. Augenscheinlich waren auf dem Theaterplatz trotz eines Regenschauers rund 5000 Menschen. Die Lage blieb zunächst friedlich. Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort.

Bei seiner umstrittenen Äußerung hatte Maaßen der „Bild“-Zeitung gesagt, dem Verfassungsschutz lägen keine belastbaren Informationen darüber vor, dass bei den Demonstrationen in Chemnitz „Hetzjagden“ stattgefunden hätten. „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Nach seiner vorsichtigen Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“. Informationen, die Maaßens Einschätzung untermauern könnten, nannte auch das BfV in seiner Stellungnahme vom Abend nicht.

Das Video zeigt einen Übergriff auf zwei Männer, möglicherweise Migranten und aufgenommen am Rande der früheren Proteste. Einer wird mehrere Meter verfolgt und mit einem Tritt attackiert. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hält die Aufnahme für echt. „Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte“, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein „Zeit Online“. Er wisse nicht, aufgrund welcher Informationen Maaßen zu anderen Schlussfolgerungen gekommen sei.

Der Generalstaatsanwaltschaft zufolge sind auf Videos „eine Vielzahl von Straftaten“ festgehalten, darunter Körperverletzung, Beleidigung und Landfriedensbruch. Derzeit gebe es 120 Ermittlungsverfahren zu Vorfällen vom 26. und 27. August. Ein Sprecher sagte aber auch: „Bis jetzt haben wir nach wie vor keine Anhaltspunkte für sogenannte Hetzjagden gefunden“, in dem Sinne, dass Menschen durch die Straßen gejagt und verprügelt worden seien. Die Auswertung gehe weiter.

Die SPD will wegen Maaßens Äußerung das für die Geheimdienste zuständige Parlamentarische Kontrollgremium anrufen. Der Innenausschuss des Bundestages wird sich in einer Sondersitzung mit Maaßens Einlassungen befassen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), dem der Bundes-Verfassungsschutz unterstellt ist, bejahte die Frage, ob Maaßen noch sein volles Vertrauen habe. Sein Informationsstand zu den Vorfällen in Chemnitz sei mit dem von Maaßen identisch. Merkel hat nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert von Maaßen bisher keine Informationen über mögliche Falschinformationen erhalten.

Die SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles sagte, Maaßen werde im Parlamentarischen Kontrollgremium kommende Woche Gelegenheit haben, „seine Behauptungen zu hinterlegen“. Grünen-Chef Robert Habeck warf ihm in der ARD politische Einflussnahme zugunsten von Rechtspopulisten vor. Es dürfe nicht zugelassen werden, „dass der Verfassungsschutzchef offen gegen die Bundeskanzlerin intrigiert“.

Maaßen wurde auch in der CDU kritisiert. Es wäre „unheimlich wichtig gewesen, dass Maaßen schon viel früher objektiv dargelegt hätte, was die Behörden über die Chemnitzer Vorfälle wissen“, sagte der Innenpolitiker Armin Schuster den „Stuttgarter Nachrichten“ und der „Stuttgarter Zeitung“ (Samstag). „In der Sondersitzung vor dem Innenausschuss muss er belegen, welche Gründe er hat, eine Fälschung nahezulegen.“ Dies verlangte auch Unionsfraktionsvize Stephan Harbarth.

Linken-Chefin Katja Kipping sagte, Maaßen sei „nicht mehr haltbar“. Er missbrauche „die Autorität seines Amtes, um jenen eine Unbedenklichkeitsbescheinigung auszustellen, die in Chemnitz den Hitlergruß zeigten und zum Töten von Menschen aufriefen“.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) will nicht weiter über den Begriff „Hetzjagd“ streiten. „Wir müssen uns nicht über Begriffe streiten. Das Entscheidende ist, dass wir für unsere Demokratie eintreten, dass wir die zur Verantwortung ziehen, die sich straffällig gemacht haben“, sagte er.

Im Zusammenhang mit dem Video, das die Diskussion mit ausgelöst hatte, liegt nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft eine Strafanzeige wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung vor. Nach Informationen der ARD handelt es sich bei dem Anzeigeerstatter um einen Afghanen. Laut „Zeit Online und „Zeit“ zeigt ein bisher unveröffentlichtes weiteres Video teilweise die gleichen Männer, wie sie auf dem von Maaßen angezweifelten Aufnahmen zu sehen sind.