Wind gegen Atomkraft - Wirtschaft will von Energiewende profitieren

Die Debatte um einen neuen Energiemix steht am zweiten Tag der Hannover Messe im Mittelpunkt. Können erneuerbare Quellen wie Wind, Wasser und Sonne die Kernkraft ersetzen? Die Windbranche hält das für realistisch.

Hannover (dpa) - Die deutsche Windkraftbranche sieht gute Chancen, die Atomenergie in Deutschland überflüssig zu machen. Noch sind aber nicht alle Voraussetzungen dafür gegeben. Vor allem an den Netzen hapere es, hieß es am Dienstag auf der Hannover Messe. Die Industrie will zugleich durch den Bau von neuen Anlagen und die Lieferung innovativer Materialien von einer Energiewende profitieren.

Der Bundesverband Windenergie (BWE) hält es für realistisch, den Atomanteil im Energiemix mittelfristig komplett ersetzen zu können. Allerdings bleibe der Ausgleich von Schwankungen bei Windstille ohne einen Netzausbau und die entsprechenden Speicher schwierig, sagte BWE-Präsident Hermann Albers.

Bisher hat Deutschland aber ein stabiles Stromnetz. Nur an 15,7 Minuten stand die Stromversorgung 2009 wegen Störungen nicht zur Verfügung. Nach Angaben des Forums Netztechnik und Netzbetrieb im Verband der Elektrotechnik (VDE) liegt Deutschland damit klar vor Österreich (37 Minuten), Italien (51) und Frankreich (66).

Eine im Auftrag des Verbandes erstellte Studie des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik ergab, dass bei einer Nutzung von zwei Prozent der Landesfläche für Windräder rund 390 Terawattstunden Strom pro Jahr geliefert werden könnten. Dieses Potenzial liege um mehr als das Doppelte über dem derzeitigen Beitrag der deutschen Atommeiler. Insgesamt könnten ohne Berücksichtigung von Offshore-Windparks im Meer bis zu 65 Prozent des deutschen Strombedarfs aus Windkraft gedeckt werden.

Die Bundesnetzagentur sieht den Strombedarf in Deutschland auch nach der Abschaltung der sieben Atommeiler gedeckt. „Allein in Europa gibt es nach Angaben der Netzbetreiber 19 000 Megawatt mehr Leistung als die maximale Nachfrage ausmacht“, sagte Bundesnetzagentur-Chef Matthias Kurth der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“/Dienstag). Dies gelte selbst, wenn das Moratorium für deutsche Kernkraftwerke verlängert werden würde.

Kurth begrüßt den Vorstoß des Bundeswirtschaftsministers Rainer Brüderle (FDP). Dieser will den Netzausbau beschleunigen, damit die erneuerbare Energie integriert werden kann. Allerdings fordert der Präsident der Bundesnetzagentur, den Leitungsbau bundesweit verbindlich zu regeln. „Es werden zu viele energiepolitische Grundsatzdebatten auf lokaler Ebene geführt, wo sie einfach nicht hingehören“, sagte er. Es sollte ein Bundesnetzplan erarbeitet werden, der den notwendigen Ausbau festlegt.

Albers forderte die Bundesregierung auf, die geplante Neufassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Interesse eines rascheren Ausstiegs aus der Kernkraft voranzubringen. Auch die südlichen Bundesländer müssten sich dazu durchringen, größere Flächen für den Bau neuer Windkraftanlagen bereitzustellen. Bisher gibt es dort erst wenige Windräder. Protesten von Bürgern gegen eine „Verspargelung“ der Landschaft trat der Verbandschef entgegen: „Wir brauchen eine Kultur des Verständnisses für die Erneuerbaren.“

Die Industrie will beim Umbau der Energieversorgung mitverdienen. Der Kunstoff- und Kautschukspezialist ContiTech plant, den Anteil seines Geschäft in diesem Sektor auszuweiten. Bisher lebt ContiTech überwiegend von Zulieferungen für die Autoindustrie. Im vergangenen Jahr machte dieser Sektor 54 Prozent des Umsatzes aus. Eine wachsende Nachfrage nach Energie und intensive Bautätigkeit rund um den Globus verstärke aber auch den Bedarf an effektiven Transportlösungen für riesige Materialmengen, sagte der Chef der Conti-Tochter, Heinz-Gerhard Wente. In diesem Feld will ContiTech künftig verstärkt mitmischen.

Seit dem Abschalten der sieben Kernkraftwerke am 17. März haben sich nach Aussagen des Präsidenten der Bundesnetzagentur die Stromflüsse geändert. In der ersten Märzhälfte habe Deutschland täglich im Durchschnitt etwa 3.500 Megawattstunden (MWh) Strom exportiert. Rein rechnerisch entspreche dies der Kapazität von etwa 3 Kernkraftwerken. Seit dem 17. März führe Deutschland im Saldo durchschnittlich 2.500 MWh am Tag ein, „in erster Linie aus Frankreich und Tschechien, dann aus Polen“.