Gedenktag 25 Jahre nach dem Brandanschlag: Die Wiederkehr des Solinger Traumas

25 Jahre lang prägten stille Trauer und das Miteinander den Gedenktag. Doch ausgerechnet jetzt ist das Trauma der Solinger zurück: der Missbrauch ihrer Stadt als Bühne.

Das Archiv-Foto von 1993 zeigt die Särge der fünf Opfer vor dem ausgebrannten Haus in Solingen.

Foto: Franz-Peter Tschauner

Solingen. Was soll eigentlich anders sein als vor fünf Jahren, als die Stadt Solingen den 20. Jahrestag des Brandanschlags vom 29. Mai 1993 mit einer bundesweit beachteten Reihe von Gedenkfeiern und gesellschaftspolitischen Veranstaltungen beging — in Ruhe und Würde?

Was kann sich in fünf Jahren schon an der Schwierigkeit ändern, die eine Stadt auch in den 20 Jahren zuvor mit der Erinnerung an ein furchtbares Verbrechen hatte, das bis heute niemand begreift?

Es ist die Wiederkehr des Traumas, dass dieser Stadt nach dem Brandanschlag auch noch jede Chance genommen wurde, in Ruhe wieder zueinander zu finden, zu trauern und das Unfassbare miteinander zu verarbeiten. Das Trauma also, zuerst als Tatort eines unvorstellbaren Verbrechens missbraucht worden zu sein, dann weltweit als Ort von Tätern gebrandmarkt zu werden, schließlich als Schauplatz massiver Gewalt durch angereiste Extremisten dienen zu müssen — und am Ende alleingelassen zu bleiben, wenn es um die Bewältigung der Folgen für die Stadtgesellschaft geht.

Die Erinnerung daran ist wach geworden, als sich der türkische Außenminister angesagt hat, als Demonstrationen und Gegendemos angekündigt wurden. Wie vor 25 Jahren überwuchert bei vielen Solingern inzwischen die eigene Sorge das stille Gedenken an die Opfer. Denn sie erinnern sich noch, wie selbst gut gemeinte Demos zum Magneten für radikale Gewalttäter wurden. Eine schwere Hypothek für ehrliche Erinnerungsarbeit.

In Solingen nicht die einzige Hypothek. 25 Jahre sind eine lange Zeit — für manchen zu lang, um noch an den Pfingstsamstag 1993 erinnert werden zu wollen. Doch gerade für die drängendsten Fragen ist selbst dieses Vierteljahrhundert noch viel zu kurz, um sie frei von Vorurteilen oder auch nur Emotionen beantworten zu können. Erst Historiker werden daher in der Lage sein, eines Tages ein gesichertes Gesamtbild von „Solingen 1993“ zu schaffen. Zu viele Fragen sind offen geblieben.

Nun werden sie wieder gestellt: zum Beispiel, wie die Türkei so schnell nach dem Verbrechen zu einem entscheidenden Faktor in der Bewältigung der gesellschaftlichen Folgen wurde: weil innertürkische Konflikte schon in den Tagen nach Pfingsten 1993 die Krawalle in Solingen bestimmten. Und weil der Druck der internationalen Beziehungen deutlich zu spüren war: Die außenpolitische Doktrin der damaligen Bundesregierung sah die Türkei als wichtigen Nato-Verbündeten und künftigen EU-Partner. Berater der Botschaft oder direkt aus Ankara waren an allen Entscheidungen rund um die Familie der Opfer beteiligt. Und sie begleiten bis heute jeden öffentlichen Schritt.

Vor allem aber fällt es schwer, diesen Einfluss seriös zu beurteilen, wenn es um die Ermittlungen nach dem Brandanschlag geht. Die öffentlichen Forderungen türkischer Politiker dürften jedenfalls den Druck auf die BKA-Fahnder nicht verringert haben. Daran musste so mancher in Solingen denken, als rund drei Jahre später bei einem noch verheerenderen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Lübeck sogar zehn Menschen starben — die öffentliche Aufmerksamkeit aber im Vergleich zu Solingen beinahe gering blieb: Wer wüsste heute noch, dass es trotz mehrerer Verdächtiger nie eine Verurteilung gab — nicht zuletzt, weil sich die Richter von den Ergebnissen der pannenreichen Ermittlungen nicht überzeugen ließen?

Unfassbare Pannen und viele offene Fragen hatte es auch in Solingen gegeben — und gerade mit dem NSU-Prozess wurden düsterste Vorstellungen einseitiger Ermittlungen in den allerletzten Jahren plötzlich Realität. Was war also seinerzeit mit den V-Leuten in der rechten Szene Solingens? Hatten die Ermittler wirklich Zeit und Spielraum, die nötig waren?

Mit dem Druck innertürkischer Konflikte muss die Solinger Stadtgesellschaft bis heute auch im Alltag umgehen — seit dem 20. Jahrestag ist dieser Druck durch Erdogans Gewaltmarsch aus dem demokratischen Rechtsstaat sogar mehr denn je zur Hypothek geworden: Der Riss zwischen den glühenden Anhängern des Autokraten und denen, die diesen Absturz Richtung Diktatur verurteilen, geht tief durch die türkisch verwurzelte Gemeinde in der Stadt.

Dass sich — wie in den jüng¬sten Tagen — inzwischen sogar Abspaltungen aus sehr liberal und weltoffen eingeschätzten Moschee-Ge¬mein¬den bilden, macht die Mentalität der türkischen Nachbarn für die übrigen Solinger noch weniger erschließbar. Offenbar hat die Erdogan-Verehrung nun selbst diese Moscheen erreicht und liberalere Gemeindemitglieder zur Abwanderung gebracht.

25 Jahre lang hat das würdige, stille Gedenken am Jahrestag dieses Wissen um die ständige Gegenwart Ankaras beim Thema Brandanschlag nicht bestimmend werden lassen. Der jeweilige offizielle türkische Vertreter blieb für die meisten Besucher der Gedenkfeier eher ein unbedeutender Fremdkörper in der Trauergemeinde.

Doch der Besuch des türkischen Außenministers kurz vor einer zweifelhaften Wahl macht diese jahrelange dezente Routine zunichte. Womit gleichzeitig klar wird, dass der Stadt in diesem Jahr so wenig Spielraum bleibt wie seinerzeit 1993: Erneut sind die Spielregeln auf der großen politischen Bühne gesetzt worden. Und erneut spielen dabei viele politische Abwägungen in Berlin und Düsseldorf eine Rolle —nicht aber die Sorgen und Nöte der Menschen in der Stadt, die ohnehin mit dem Unfassbaren und seinen Folgen leben muss. 1993 blendete Kanzler Kohl Solingen fast komplett aus, weil er seinen persönlichen Türkei-Kurs nicht gefährden wollte. 2018 tauchen Berlin und Düsseldorf gleich ganz ab — bei Nachfragen zur Kooperation von Staatskanzlei und Außenministerium wird man im Rathaus auffallend schmallippig.

Wie soll Solingen aber einen türkischen Außenminister quasi verbannen, den der NRW-Ministerpräsident ausdrücklich eingeladen hat? Wenn sich nun auch noch der deutsche Außenminister angesagt hat, dazu der Landtagspräsident? Wenn es zudem der Wunsch von Mevlüde Genç war, dass am Mahnmal beide Heimatländer der Familie mit Regierungsvertretern vereint sein sollen? Und wenn obendrein 25 Jahre lang ein hochrangiger Vertreter Ankaras am Mahnmal gesprochen hat?

Die Solinger Politik ist nun erneut gefordert, mit Besonnenheit der Zerreißprobe zu entgehen: Niemandem darf es gelingen, das würdige gemeinsame Erinnern an die fünf toten Frauen und Mädchen am Mahnmal zu verhindern. Gerade über Solingen hinaus wäre das Fernbleiben von Ratsmitgliedern nicht nur eine Kapitulation, sondern ein fatales Signal. Auch wenn der Wunsch auf den ersten Blick verständlich scheint, Herrn Çavuşoğlu nicht begegnen zu wollen. Erst recht nicht an diesem Mahnmal.
Doch all das ist nicht das eigentlich Bedrückende dieser Tage.

Endgültig nach dem Solinger Brandanschlag begann die sehr deutliche Debatte darüber, welche tieferen Ursachen zu der beispiellosen Gewaltwelle der Jahre 1992 und 1993 geführt haben mochten. Und am Ende waren sich nicht nur Wissenschaftler einig, dass es vor allem die Verrohung der Sprache in der Öffentlichkeit gewesen war: „Das Boot ist voll!“ — über Monate zog sich diese Kampagne bis hinein in die Boulevard-Medi¬en, und manche Politiker überboten sich mit ultimativen Forderungen und Formulierungen.

Doch was, wenn in allseits beschworener, scheinbar höch¬ster Gefahr für Deutschland immer nur Forderungen und Warnungen wiederholt werden? Wenn niemand wirklich handelt? Dann nimmt das irgendwann mal jemand in die Hand. So wurden am 29. Mai 1993 auch in Solingen aus Worten Taten.

Seit Beginn des Flüchtlingsdramas durch den Krieg rund um Syrien ist dieses Trauma der Sprach-Verrohung nun ebenfalls zurückgekehrt. Vor wenigen Tagen bescheinigte die Süddeutsche Zeitung in einem Leitartikel der „ständigen Zündelei beim Thema Migration“ regelrecht System. Ein System, auf das vor allem im Wahlkampf gesetzt werde: Denn auch 25 Jahre nach dem Brandanschlag sind wie damals Landtagswahlen in Bayern.

Doch deren Strategen haben längst nicht mehr die Alleinherrschaft über die Stammtische. Seit letztem Jahr sitzt mit der AfD eine rechte Partei im Bundestag, deren Gesinnung und Sprache nicht einmal mehr verbergen, dass sie schon Stiefel anhaben. So findet der erbitterte Kampf um den mehr oder weniger dicken rechten Rand der bürgerlichen Gesellschaft seit Monaten quasi mit den Chemie-Waffen des Sprach-Arsenals statt: mit Ressentiments gegen Asylbewerber oder gleich blankem Ausländerhass — schlimmer noch als 1993.

Und auch heute brennen wieder Häuser, mehr denn je. Die vielbeschworenen Lehren aus Hünxe, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen? Gedenkreden, Kranzschleifen.
Vielen Solingern bleibt daher in diesen Tagen neben der Sorge vor dem heutigen 29. Mai auch ohnmächtige Wut. Die Wut darüber, dass sie 25 Jahre harte Arbeit und echtes Bemühen um die Stadtgesellschaft nicht vor der Rückkehr des Traumas von Pfingsten 1993 bewahren konnten.

Es ist für sie schwer zu ertragen, dass dieses Verbrechen die Stadt und ihre Menschen nicht mehr loslässt — und dass andere gleichzeitig völlig unbehelligt nicht einmal die einfachsten Lehren daraus zu ziehen bereit sind.

Vor allem aber, dass unsere Republik damit heute wieder genau da steht, wo sie auch am Abend des 28. Mai 1993 stand.