Gastbeitrag Laschet: "Mevlüde Genç ist die beeindruckendste Frau, die ich je kennengelernt habe"

25 Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen blickt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet in einem Gastbeitrag für unsere Redaktion zurück.

Foto: Marius Becker/dpa

"Vor zehn Jahren reiste ich zum ersten Mal als damaliger Integrationsminister auf Einladung von Familie Genç nach Mercimek, ihrem Heimatdorf in der türkischen Provinz Amasya. Das Dorf hat heute eine Kanalisation, gepflasterte Wege und eine Gemeinschaftshalle, die mit Unterstützung der Bundesregierung gebaut wurde, als Teil einer „Wiedergutmachung“ für den Solinger Brandanschlag am 29. Mai 1993, für den es angesichts der tiefen hinterlassenen Wunde eigentlich gar keine Wiedergutmachung geben kann. Bundesaußenminister Klaus Kinkel hatte nach dem schrecklichen Verbrechen das 625-Einwohner-Dorf besucht. Mercimek liegt gut 100 Kilometer südlich der Schwarzmeer-Metropole Samsun im Norden der Türkei, eingebettet in die malerischen Landschaft der Pontischen Alpen, und man erahnt, wie schwer es der ersten Generation fiel, diese Idylle zu verlassen, um als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen.

„Gastarbeiter“ — ein so typisch deutsches Wort. Wer lässt schon Gäste arbeiten? Aber die, die von Deutschland angeworben wurden, leisteten eben auch ihren wichtigen Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder, durch harte Arbeit im Bergbau, in Stahlwerken und in der Automobilindustrie. Oder wie Durmuş Genç, der 1970 nach Solingen kam, durch sein Schaffen in einer Textilfabrik, wo ihn während einer Nachtschicht am Pfingstsamstag vor 25 Jahren die Nachricht ereilen sollte, dass fünf seiner Kinder ums Leben gekommen waren.

Als Deutschland nach der Wiedervereinigung hart über das Asylrecht stritt, gab es Brandanschläge gegen Menschen türkischer Herkunft, die zur Arbeit in unser Land kamen, seit Jahrzehnten in Deutschland lebten und Opfer einer Diskussion wurden, bei denen es gar nicht um sie, sondern um Asylbewerber aus vielen Teilen der Erde ging.

Aufgeladen war die Stimmung in der Bundesrepublik und als am 26. Mai 1993 die Bundestagsabgeordneten über eine Grundgesetzänderung abstimmten, blockierten mehr als 10.000 Demonstranten das Regierungsviertel in Bonn. Abgeordnete wurden mit Schiffen aus Bad Godesberg an den Rheineingang des Bundestages gefahren, um überhaupt in den Plenarsaal gelangen zu können. Das einzige Mal in der Nachkriegsgeschichte des Parlaments.

(Mevlüde Genç und ihr Mann Durmus 2013 in Solingen. Archivbild: dpa)

Drei Tage später warfen vier rechtsextreme Jugendliche Brandsätze in das Haus der Familie Genç in der Unteren Wernerstraße in Solingen. Gürsün İnce (27) und Saime Genç (4) erlagen ihren Verletzungen nach einem Sprung aus dem Fenster, Hatice Genç (19), Gülüstan Öztürk (12) und Hülya Genç (9) verbrannten in den Flammen. Johannes Rau, der damalige Ministerpräsident, setzte sich sofort in sein privates Auto und eilte aus seinem Wohnort Wuppertal ins benachbarte Solingen.

Tausende türkischstämmige Jugendliche gingen in den nächsten Tagen auf die Straße und es drohten Gewalttaten und Racheakte überall in Deutschland. Mevlüde Genç, die warmherzige Mutter der Familie, rief schon am Tag nach dem schmerzhaften Verlust von zwei Töchtern, zwei Enkelinnen und einer Nichte zur Versöhnung auf. Ihren Landsleuten rief sie zu: Es waren nicht die Deutschen, sondern Einzeltäter. „Nur die Versöhnung überwindet den Hass. Ich vertraue den deutschen Behörden, die Täter zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen.“ Mevlüde Genç ist die beeindruckendste Frau, die ich je kennengelernt habe. Auch im tiefsten Schmerz keine pauschale Verurteilung — davon können manche lernen, die vorschnell über „die Flüchtlinge“, „die Muslime“, „die Türken“ hetzen, wenn einzelne Täter Straftaten begangen haben.

Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und der 15 Jahre alte Bekir Genç wurden mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Bekir Genç erlitt schwerste Verbrennungen und unterzog sich seit dem Anschlag insgesamt 30 Hauttransplantationen. Als wir in Mercimek gemeinsam an den Gräbern standen, sagte er mir, er freue sich, wenn es in den nächsten Tagen zurück nach Hause gehen würde — nach Solingen.

Bei meinem Besuch äußerte die Familie den Wunsch, dass an dem Grab der ermordeten Kinder nicht nur die türkische, sondern auch in Zukunft die deutsche Fahne wehen solle. Die Identität der Familie ist trotz des Verbrechens in Deutschland immer eine türkische und eine deutsche geblieben.

Ich verstehe Mevlüde Genç daher. „Es erfüllt mich mit tiefer Trauer, dass das Gedenken an den wichtigsten Tag meines Lebens von politischer Auseinandersetzung überschattet wird“, hat sie vor einigen Tagen in einem Interview gesagt.

Nur wegen der Anwesenheit des — auf ausdrücklichen Wunsch der Familie eingeladenen — türkischen Außenministers ein gemeinsames Gedenken im Landtag zu verhindern, ist beschämend. Wenigstens im Angesicht dieser Tragödie und der menschlichen Großtat von Frau Genç einmal das parteipolitische Kalkül hinter sich zu lassen — das wäre die Chance zum Zusammenhalt gerade mit Blick auf die polarisierte Debatte der letzten Jahre gewesen. Der Brandanschlag war eben kein lokales Solinger Ereignis. Es war der schlimmste Anschlag in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Gut, dass der Außenminister Heiko Maas mit seinem türkischen Kollegen nach Solingen geht und gemeinsam der Opfer dieses Verbrechens gedenkt. Auch ihm ist klar, dass die Trauer keine Gelegenheit für Wahlkampf bietet. Das ist auch meine Position.

Für unser Land Nordrhein-Westfalen habe ich nun die Familie und einen kleinen Kreis von Persönlichkeiten in die Staatskanzlei eingeladen. Wir würdigen die Versöhnung. Der türkische Außenminister wird mit dabei sein und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. An diesem Tag muss das Gedenken im Mittelpunkt stehen — und der parteipolitische Streit draußen bleiben. Der 25. Todestag muss ein Versöhnungstag sein und ein Tag der Mahnung, dass sich der Hass nie wiederholen darf."