Bilanz und Ausblick: Wohin die NRW-Koalition wandert
Politik braucht Zeit — aber sollte nicht alles ganz schnell gehen? Die neue Landesregierung in NRW hat einiges angestoßen und viele Fehler gemacht. Eine Bilanz und ein Ausblick mit Experten.
Düsseldorf. Den letzten Schlagabtausch vor dem Weihnachtsfest prägte gestern jeder auf seine Weise. Als die aus Sicht der Arbeitnehmer beachtliche Einigung bei Thyssenkrupp in den NRW-Landtag schwappte, feierte die SPD per Pressemitteilung den Verhandlungserfolg der IG Metall. Der sei umso größer, wie SPD-Fraktionschef Norbert Römer ätzte, „als die Gewerkschaft völlig ohne Rückendeckung durch Ministerpräsident Armin Laschet kämpfen musste“. Römer konstatierte gestern: „Erstmals in der Geschichte des Landes NRW hat ein Ministerpräsident tatenlos zugesehen, wenn eine ganze Branche um ihr Überleben kämpft.“
Zwei Stunden später steht Armin Laschet in seinem in den Herbstferien neu bezogenen Landeshaus am Horionplatz und interpretiert die Einigung beim Essener Stahlgiganten anders: Es habe immer einen „starken Gesprächsfaden“ zwischen der Landesregierung und dem Unternehmen gegeben. Erst vor Tagen habe er den Vorstand von Tata „in Berlin getroffen, um ihn einmal kennenzulernen“. Insofern sei die nun geschaffene Lösung eine gute, besonders zu Weihnachten. Frohes Fest!
Institutionalisierte Gegensätze sind das, wohl auch „parteipolitische Spielchen“, wie Laschet das gestern bezeichnete. Aber immerhin sind es politische Gegensätze, die Wahlentscheidungen erleichtern und Verständnis von Zusammenhängen erleichtern können. Zumal in einer Gesellschaft, die immer wieder reflexartig Unkenntlichkeit von politischen Unterschieden beschreit. Zum politisch interessanten, aber bisweilen auch erschütternden Jahr 2017 gehört auch die Erkenntnis, dass dieser Reflex ernsthaft nicht am Leben gehalten werden kann: Der Unterschiede gibt es genug. Und sie wurden und werden derzeit durchaus eifrig diskutiert.
Der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte erkennt gegenüber unserer Zeitung in der Arbeit der selbst ernannten „NRW-Koaliton“ von CDU und FDP, die von der SPD seit geraumer Zeit nur noch abschätzig als „Mitte-Rechts-Koaliton“ bezeichnet wird, ein Muster: „Die NRW-Koalition arbeitet sich immer noch tastend und behutsam vor. Das politische Terrain wird vermessen. Pragmatisch, unideologisch, problemlösend ist dabei die Sicht der Regierung.“ Dabei fällt Korte auf, „wie im Mikrokosmos der ministeriellen Zuständigkeiten turbulente Umbauarbeiten laufen. Die Dynamik der Neuzuschnitte der Ressorts lässt systematische und zentrale Steuerungsvorhaben der Minister erst im späten 2018 erwarten.“
Ob es tatsächlich das ist, was die Aufbruchstimmung verhindert hat, die CDU und FDP unmittelbar vor der Landtagswahl im Mai dieses Jahres mit einem furiosen Schlussspurt und der lange nicht für möglich gehaltenen Ablösung der rot-grünen Regierung von Hannelore Kraft geschaffen zu haben schienen? Der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Professor Ulrich von Alemann hält die erste Bilanz der NRW-Regierung für eine gemischte: Zwar seien neue Akzente gesetzt, aber „keine Aufbruchsstimmung erzeugt“ worden, sagt er unserer Zeitung.
Tatsächlich bohrt die Regierung die dicken Bretter erst mit langem Anlauf. Wirtschaftsminister Pinkwarts Entfesselungsvorstöße drohen schon im Fall der verkaufsoffenen Sonntage am Zweifel landespolitischer Zuständigkeiten zu zerbersten. Auch Verkehrsminister Wüsts Bemühen, den viel zitierten Stau auf NRW-Autobahnen aufzulösen, marode Autobahnbrücken schneller zu sanieren oder neu zu bauen und öffentlichen Nahverkehr digitaler über die Verbünde hinweg für den Bürger durchlässiger zu machen, brauchen vor allem eines: Zeit. Eine Regel, die auch Schulministerin Gebauer nicht durchbrechen kann, wenn es trotz schneller Leitentscheidung für G9 um konkrete Ausgestaltung und um fehlende Lehrkräfte in Grundschulen geht. Ideen sind da, Erfolge noch überschaubar. Aber hatten die Koalitionsparteien nicht im Wahlkampf ein noch ganz anderes Tempo an den Tag gelegt? Es ist die Ankunft in der Wirklichkeit, die sich dem Wähler im Wahlkampf in einer Mischung aus Hoffnung und Ignoranz auf allen Seiten ganz anders darstellt hat.
Von Alemann bewertet sogar die Finanzpolitik der neuen Regierung kritisch. Trotz eines NRW-Haushalts, der 2018 erstmalig mit Ankündigung ohne neue Schulden auskommen will und den Korte deshalb als „Marke für spektakulär-historisch“ hält: „Die Koalitionspartner hatten noch in der Opposition die Schuldenpolitik angeprangert, so ist auch jetzt die Schuldentilgung nicht die höchste Priorität beim neuen Haushalt“, kritisiert von Alemann und meint wohl zuerst den Nachtragshaushalt von 1,52 Milliarden für 2017, den die Regierung als „Schlussrechnung für eine rot-grüne Regierung“ quittierte. Jetzt hilft die konstante Einnahmesteigerung dank sprudelnder Steuerquellen. Das macht das Gestalten leichter und erfreut auch jene Bereiche, die in NRW fast schon traditionell deutlich zu kurz gekommen waren: Der Kultur-Etat wurde verdoppelt, auch Breiten- und Leistungssport erfreuen sich an deutlich mehr Zuwendungen als zuvor.
Umso unverständlicher, dass die erste Regierungszeit viele vermeidbare handwerkliche Fehler prägten, die das Gesamtbild verschwimmen lassen: Mit Stephan Holthoff-Pförtner einen Medienmanager zum Medienminister zu machen, war eine so schlechte Laschet-Idee, wie die Landwirtschaftslobbyistin Christina Schulze Föcking zur Umweltministerin zu küren. Das mag man in der Regierung intern gerne weglächeln, hat Laschet aber ohne Zweifel Reputation gekostet. Wie die Debatte über die Kürzungen von Landessubventionen beim Sozialticket.
„Die Kürzung des Sozialtickets war der wohl größte Fehler der neuen Regierung“, findet von Alemann. „Der wurde schnell korrigiert, um nicht noch stärker der sozialen Kälte bezichtigt zu werden.“ Genau jener Stempel droht der Koalition in einem Land, das nicht mehr die Eigenschaften einer sozialdemokratischen Herzkammer erfüllen mag, sich aber bei starker Forderung nach pragmatischer Politik grundsätzlich noch um warme Herzen bemühen möchte. Im Wissen auch um solche Fehler tauchte Laschet gestern beim Adventsessen für Obdachlose des Sozialdienstes katholischer Männer in Köln auf: als Überraschungsgast, der ein Drei-Gänge-Menü servierte.
Es gibt nicht wenige Journalisten im Politikbetrieb der Landeshauptstadt, die sich für die gesammelten Fehler der neuen Regierung einen eigenen Ordner angelegt haben. Dort sind auch die wirren Diskussionen um die vermeintliche Privatisierung des Kölner Flughafens zwischen Berlin und Düsseldorf abgeheftet. Und die (zunächst gescheiterte) Installierung von CDU-Politiker Friedhelm Merz als dessen Aufsichtsratschef, den die Opposition mühelos als „Top-Lobbyisten“ bezeichnen kann.
Das Muster ist, wie auch bei der unnötig spät eingesetzten Bosbach-Kommission für eine neue Sicherheitsarchitektur, stets ähnlich: Laschet umgibt sich mit prominenten und auf landespolitischer Ebene beachtlichen Namen, bindet so alle Spektren funktional ein, sammelt Stärken, die er unter Umständen selbst nicht hat — unterschätzt aber zu oft die unter dem Strich aufgenommenen Signale, die mit diesen Personalien einhergehen können. Alternativ ist ihm diese Aufregung egal, was durchaus möglich ist, aber missachtet, dass Politik in Zeiten von digitaler Teilhabe und schnellen Stimmungsumschwüngen des Wählers noch viel mehr als früher dazu verpflichtet ist, Handlungen abzuwägen, zu moderieren und zu erklären.
Auf diese Weise verloren gegangenes Terrain muss sich Laschet auf anderem Gebiet mühsam zurückerobern: Keiner der jüngeren NRW-Chefs spulte annähernd ein Programm ab wie der ehemalige Journalist aus Aachen. Im internen Kreis heißt es, der Sicherheitsdienst des Ministerpräsidenten beklage zunehmend den deutlich erhöhten Arbeitsaufwand. „Der Ministerpräsident ist bundesweit sichtbar, was auch den NRW-Bürgerstolz stärkt“, analysiert auch Korte Laschets Auftritte über NRW hinaus. Die finden auch statt, weil die Bühne in Berlin in diesem Jahr mindestens so groß war wie die Nähe Laschets zu Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Dass es mit der laufenden Neuordnung der Bundespolitik für den NRW-Ministerpräsidenten nicht leichter werden kann, ist fast logisch: „Laschet hat bei den Berliner Sondierungen kräftig auf Kohle-, Energie- und Industriepolitik gepocht. Nun muss er möglicherweise doch mit einer Berliner großen Koalition rechnen, die allerdings in diesen Punkten nicht viel anders ticken würde“, sagt von Alemann. Laschet stehe im Fall einer Berliner Groko „dann manchmal am Scheideweg. Gerade auch im Bundesrat, wo sein FDP-Partner aus NRW lieber opponieren, als mit der Groko mitregieren würde“. Zudem, so Alemann, würden die „großen Worte aus der Oppositionszeit, NRW müsse endlich mit den prosperierenden Bundesländern im Süden gleichziehen“, die Regierung zusätzlich „wie eine Bleiweste“ beschweren. Ob daraus im Hinblick auf eine Wahlentscheidung 2022 eine andere Konstellation erwächst, ist laut Korte noch nicht abzusehen. „Identität und Sicherheit sind die zentralen Themen, die auch 2022 wahlentscheidend sein werden. Wer gehört dazu? Wo endet das gemeinsame Wir? Wer hält sich an Regeln und wer nicht?“ Das bewege die Bürger in NRW. „Wer diese Fragen beantwortet, hat den Schlüssel zur Mobilisierung.“