Buch Der verzweifelte Kampf der Neriman Yaman

Innerhalb von zwei Jahren verliert die Deutsch-Türkin aus Gelsenkirchen ihren Sohn an den Salafismus. Dann begeht der 16-Jährige einen Bombenanschlag.

Foto: Marco Rose

Gelsenkirchen. Was wäre, wenn? Diese Frage hat sich Neriman Yaman in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder gestellt. Ob ihr Sohn Yusuf auch in Untersuchungshaft säße, wenn sie ihm nicht den Rat gegeben hätte, sich im Internet die Seiten von Pierre Vogel anzusehen. Jenes Predigers, den sie selbst vor Jahren in ihrer türkischen Gemeinde bei einem Auftritt erlebt hatte.

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Ob ihr Sohn am 16. April mit einem Freund die Bombe vor dem Essener Sikh-Tempel gezündet hätte, wenn sie nur noch strenger gewesen wäre. Härter? Unnachgiebiger? Ob ihr Sohn jetzt noch das Grillo-Gymnasium besuchen könnte, wenn sie nur an jenem Tag zu Hause gewesen wäre, als er sich in seinem Jugendzimmer mit dem Rauch einer Wasserpfeife derart benebelte, dass er anschließend von einem religiösen Erweckungserlebnis fabulierte und daraufhin immer weiter abdrehte? Neriman Yaman schießen Tränen in die Augen. Sie weiß es nicht.

Die Geschichte der Familie Yaman aus Gelsenkirchen ist eine deutsche Tragödie. Es ist eine Geschichte von harter Arbeit, von Hoffnung, von Glück, von Enttäuschung, von Schmerz. Zuhause sind die Yamans in Ückendorf, einem Gelsenkirchener Viertel unweit des Hauptbahnhofs. Schön ist es hier nach gängigen Maßstäben nicht überall — ein sozialer Brennpunkt, wie es so oft heißt. Aber für die Yamans ist Ückendorf Heimat. Ihr Name ist im Viertel bekannt.

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An der Fassade eines Eckhauses unweit der evangelischen Kirche erinnert eine inzwischen verblichene Leuchtreklame an bessere Tage: „Yaman Market 2“ steht da. Den Lebensmittelmarkt hat Nerimans Vater in den 80er Jahren gegründet. Heute steht das Geschäft leer. Irgendwann wurde die Miete erhöht, da hat es sich einfach nicht mehr gerechnet. Ein größerer türkischer Supermarkt bedient inzwischen die ehemalige Stammkundschaft.

„Die Kinder sollen es einmal besser haben.“ Diesen Satz hatte schon Nerimans Großvater auf den Lippen, als er in den 60er Jahren von Sinop, einem kleinen anatolischen Fischerdorf, in den Ruhrpott zog. Als Gastarbeiter, wie es damals hieß. Und für eine Weile sah es auch so aus, als ob sich dieses Versprechen halten ließe. Der Großvater verdiente sein Geld unter Tage. Auch Nerimans Vater arbeitete in der Zeche, bevor er nach einem schweren Arbeitsunfall zunächst arbeitslos war und dann den Laden in Ückendorf eröffnete, der in den ersten Jahren florierte und ordentlich Geld abwarf.

Neriman, die 1979 in Gelsenkirchen geboren wurde, war eine begabte Schülerin. Sie hörte Rock ‘n‘ Roll, trug Jeans und Lederjacke, wollte Abitur machen, studieren, den Weltraum erforschen. Doch diese Träume zerplatzten jäh, als es mit dem „Yaman Market“ langsam bergab ging. Ohne Hilfe der Kinder war der Laden nicht mehr rentabel. Neriman brach die Schule nach der Mittleren Reife ab und arbeitete als Verkäuferin. Aber ihre Kinder, die sie einmal bekommen würde, sollten es besser haben!

„Rate, was Yusuf gemacht hat!“ Als Neriman im vergangenen Jahr mit diesen Worten von ihrer Tochter Büschra begrüßt wird, ahnt sie Böses. Büschra zeigt ihr eine Internetseite. Es ist Yusufs Seite, er präsentiert sich dort mit einem Foto. 7000 Likes hat er da schon gesammelt. Yusuf gibt religiöse Ratschläge und wird von den Besuchern seiner Seite als Hodscha, als Korangelehrter verehrt. Ihren zu diesem Zeitpunkt gerade 15-jährigen Sohn sieht Neriman plötzlich mit anderen Augen. Innerhalb weniger Monate hat er sich vollkommen verwandelt.

Was als „nerviges Hobby“ begann, macht seiner Umwelt plötzlich Angst. In seiner Freizeit trägt Yusuf ein arabisches Gewand nebst Turban. „In den heiligen Schriften steht, dass schon der Prophet Mohammed ein solches Gewand getragen hat“, sagt er. Seine Sprache ändert sich. Religiöse Phrasen fügt er nun wie selbstverständlich in jeden Satz ein. Zuhause hält Yusuf dogmatische Vorträge, verteufelt den westlichen Lebensstil seiner Eltern und vor allem seiner Schwester und schimpft über die Kuffar, die Ungläubigen.

In der Schule bedroht er ein jüdisches Mädchen und fällt auf, weil er mit einem Freund in der Pause mitten auf dem Schulhof betet, Korane verteilt und Frauen nicht mehr die Hand geben will. Die örtliche Moschee erteilt ihm Hausverbot, nachdem er den Imam beim Freitagsgebet unterbrochen und ihm „falsches Beten“ vorgeworfen hat. Doch all das ist nichts gegen die noch folgenden Ereignisse, die die Familie Yaman verzweifeln lassen.

„Mama, darf ich vorstellen: Das ist meine Freundin. Nurcan.“ Neriman fällt beinahe die Kaffeetasse aus der Hand. Hinter Yusuf steht ein großes, mit einer Burkha voll verschleiertes Mädchen. Ihre Augen sind hinter Gitterstoff verborgen. Dazu trägt sie Handschuhe. Neriman muss schlucken. Diesen Anblick kennt sie nur aus Filmen. Ihr Sohn eröffnet ihr, dass man sich über seine Internetseite kennengelernt habe und heiraten wolle. „Vor Gott spielt das Alter keine Rolle“, sagt er.

Dass seine Eltern es verbieten, hindert Yusuf nicht daran, seinen Plan umzusetzen. Am 10. Mai 2015 — Muttertag — meldet er sich per Handy bei seinen Eltern. Er habe geheiratet, sagt der 15-Jährige. Ein junger deutscher Konvertit namens Sebastian habe die beiden getraut. Für Neriman ist das alles zu viel. Sie erleidet einen Nervenzusammenbruch.

Von nun an leben die Yamans endgültig im Ausnahmezustand. Verheerend wirkt sich aus, dass Yusuf seit dem nunmehr zweiten Schulverweis über Monate hinweg alleine zuhause herumgammelt, während seine Eltern arbeiten müssen. Zunehmend empfängt er dubiose Besucher, die er von der Familie abschottet. Eine neue Eskalationsstufe ist kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres erreicht, am 21. Dezember 2015: Um 5.33 Uhr wird die Familie von der Polizei geweckt. Fünf Beamte durchsuchen die Wohnung nach Waffen, wie sie sagen, und beschlagnahmen alle elektronischen Geräte von Yusuf.

Auf seiner Facebook-Seite prahlt er anschließend: „Liebe Geschwister, eine kurze Mitteilung: Die Kuffar kamen unter einem Vorwand in unser Haus, um mir meine elektronischen Geräte abzunehmen. In¬shallah, mir geht es gut. Allah, subhanahu wa-ta‘ ala, verblendete ihre Augen, so dass sie mein Handy nicht finden konnten.“

„Ich habe Mist gebaut, Mama.“ Es ist Sonntag, der 19. April 2016. Yusuf hockt auf seinem Bett, als seine Mutter zu ihm kommt. „Ich habe ganz, ganz großen Mist gemacht.“ Er reicht ihr ein Handy. Ein Artikel ist geöffnet. „Bombenanschlag auf Sikh-Tempel in Essen — drei Menschen verletzt“, ist da zu lesen. „Warum zeigst Du mir das?“, fragt Neriman, doch die Antwort ahnt sie in diesem Moment schon. Es ist ein Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen.

Am gleichen Tag redet Yusuf: „Wir haben einen Sprengsatz gebaut. Wir wollten ihn gestern vor dem Sikh-Tempel zünden, aber Mama, ich schwöre Dir auf alles, was mir heilig ist, wir wollten niemanden verletzen. Der Tempel war leer. Ich schwöre es Dir, der Tempel war leer. Erst in der Zeitung habe ich dann gelesen, dass im Hof eine Hochzeit oder so etwas gefeiert wurde.“

Es ist Yusufs vorerst letzter Tag in Freiheit. Seine Eltern bringen ihn auf die Polizeiwache Gelsenkirchen. Seitdem sitzt er in der Justizvollzugsanstalt Iserlohn in Untersuchungshaft. Yusuf, der Salafist.

„Ich bin froh, dass er dort ist — weg von seinen gefährlichen und falschen Freunden. Ich bin froh, dass er jetzt nicht in Syrien ist“, sagt seine Mutter heute. Knapp zwei Monate vor Beginn der Hauptverhandlung gegen ihren Sohn hat Neriman Yaman ein Buch veröffentlicht, in dem sie das Abgleiten ihres Kindes schildert. Nicht, um ihn zu verteidigen, wie sie sagt. „Sondern um anderen Eltern zu zeigen, wie gefährlich diese Strömung ist.“

Vor allem aber ist es ihr Weg, mit der Tragödie umzugehen. „Ich habe doch alles versucht. Ich habe mit Imamen gesprochen, ich habe mit Psychologen gesprochen, ich habe mit der Schule gesprochen, ich habe mit der Polizei gesprochen, ich habe ihn in einem Aussteiger-Programm untergebracht. Ich habe mit allen gesprochen. Aber niemand konnte helfen.“

Neriman wird ihren Sohn nicht aufgeben. Trotz allem. Und das soll er spüren: „Denn das gibt ihm die Kraft und die Gewissheit, dass er den wichtigsten Kampf seines Lebens nicht alleine führen muss. Den Kampf, den er jetzt in der Gefängniszelle austrägt. Den Kampf gegen sich selbst.“