NRW Endgültig vom Glück verlassen? Ralf Jäger immer stärker unter Druck

Seit sieben Jahren überlebt Innenminister Ralf Jäger (SPD) alle Skandale und Skandälchen, für die er in der Verantwortung steht. Im Fall Anis Amri jedoch könnte Jäger sein Glücksreservoir endgültig aufgebraucht haben. Strapaziert hat er es vom ersten Tag im Ministeramt an.

Ralf Jäger (SPD), NRW-Innenminister seit 2010, lässt im Fall Anis Amri nach Schuldigen suchen.

Foto: Federico Gambarini

Duisburg. In einer Runde mit Journalisten, die nicht für tagespolitische Berichterstattung bestimmt war, berichtete Ralf Jäger einmal von einem Gespräch mit einem CDU-Kollegen. Den habe er gefragt, so Jäger, wie er es eigentlich geschafft habe, länger als ein Jahrzehnt Innenminister eines Bundeslandes zu bleiben. Antwort: „Mit Glück.“

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Ähnliche Geschichten erzählen auf Bundes- wie auf Landesebene viele Ministerinnen und Minister, in deren Geschäftsbereichen sich mehr oder weniger täglich irgendetwas zutragen kann, wofür als letzte Schadensbegrenzung nur noch der Rücktritt bleibt. Das Glück, so heißt es, sei mit dem Tüchtigen. Und das man für das Glück ein gewisses Talent brauche. Das werden die meisten seiner Weggefährten Ralf Jäger ebenso wenig absprechen wie ein wirklich dickes Fell.

Jäger sei derben Umgang gewohnt, charakterisierte ihn die „Welt“ vor drei Jahren: Vom Milieu der Duisburger Stahlkocher geprägt, der Vater war früh gestorben, die Mutter Chefin einer Kneipe, „wo Sohn Ralf nach Schulschluss am Gymnasium nachmittags Bier zapfte“. Er, einziger der vier Geschwister, der das Gymnasium besuchen durfte. Danach Groß- und Außenhandelskaufmann gelernt, zuletzt als „Fachreferent“ bei der Techniker Krankenkasse angestellt. An der Uni Duisburg studierte Jäger ohne Abschluss Pädagogik und wechselte aus dem Hörsaal direkt in den Landtag; knapp 20 Jahre dauerte der Weg vom SPD-Eintritt bis dorthin, und noch einmal zehn Jahre bis zum Ministeramt, das ein Schleudersitz sein kann.

Neun Tage war Ralf Jäger im Amt, als er mitten in einem der schlimmsten Unglücke des Landes mit am Ende 21 Toten und 541 Verletzten über mehr zufälligen Dusel als politischen Verstand verfügte. An diesem Tag, dem 24. Juli 2010, an dem die 19. Loveparade in Jägers Heimatstadt Duisburg zum Totentanz wurde, stand der frisch gebackene NRW-Innenminister zusammen mit dem stellvertretenden Duisburger Polizeipräsidenten Detlef von Schmeling um 16.47 Uhr auf einer Presse-Tribüne, wo WDR-Moderator Thomas Bug gerade den Veranstalter Rainer Schaller interviewte.

Am Tag vor der Loveparade porträtierte seine Lieblings-Heimatzeitung den damals 49-Jährigen im frisch eroberten Ministerbüro (fünfter Stock, dunkler Schreibtisch, Blick auf die Rheinkniebrücke). „Das Diensthandy ist immer empfangsbereit, bei Gefahrenlagen wie Katastrophen oder schweren Unfällen wird der Innenminister sofort vom Lagezentrum informiert“, wurde der Duisburger SPD-Chef bestaunt, der über Nacht zum Chef 900 Ministeriums-Mitarbeitern und mehr 40 000 nordrhein-westfälischen Polizeibeamten geworden war. „Ich besuche die Einsatzleitstellen von Feuerwehr und Polizei, gehe auch zum Krisenstab der Stadt Duisburg“, kündigte er für die Loveparade des Folgetages an.

Der Filmausschnitt aus der Live-Übertragung, der bis heute bei Youtube zu sehen ist, zeigt Jäger um 16.47 Uhr in unaufdringlicher Wartestellung für den Fall, dass das Mikrofon sich in seine Richtung drehen sollte. Den Vize-Polizeipräsidenten zeigt es mit einem weißen Knopf im Ohr, von dem ein Kabel abgeht. Ein symbolträchtiges Bild: der Minister und sein Polizist, top informiert, alles im Blick.

Zu Jägers Glück drehte sich das Mikrofon nicht in seine Richtung. Wahrscheinlich hätte er sich in diesen Minuten um Kopf und Kragen geredet und erzählt, wie hervorragend in den Einsatzleitstellen von Feuerwehr und Polizei und beim städtischen Krisenstab gearbeitet werde, wovon er sich selbst ein Bild gemacht habe — während die ersten Toten am Fuß der Rampe zum Loveparade-Gelände lagen.

Denn was immer auch der Vize-Polizeipräsident Schmeling um 16.47 Uhr über den weißen Knopf ins Ohr gespielt wurde, ob am Ende des Kabels bloß ein Mp3-Player oder ein altertümliches Hörgerät hing, hatte mit der Loveparade nichts zu tun. Zu dem Zeitpunkt, als am Fuß der Tunnel an der Karl-Lehr-Straße das Sterben begann, wusste Innenminister Jäger von gar nichts.

Auf mehr als 30 000 Seiten staatsanwaltlicher Untersuchungen findet sich außer massivem Gedächtnisverlust keine Aussage eines einzigen Polizisten, die darauf schließen ließe, dass der stellvertretende Polizeipräsident irgendeine Funktion für das Einsatzgeschehen rund um die Loveparade hatte. Den Loveparade-Einsatz leitete ein Polizist, der nach Jägers Auffassung schon einmal „das Recht auf den Kopf gestellt“ hatte.

Das war Jägers Beurteilung als SPD-Fraktionsvize ganze acht Wochen zuvor im NRW-Landtag, als der noch amtierende Innenminister Ingo Wolf (FDP) sich für einen Einsatz dieses Beamten bei einer Demonstration von rund 10 000 Anhängern der radikalen türkischen Organisation Milli Görus in Duisburg rechtfertigen musste. Weil die Islamisten sich provoziert fühlten, ließ der Polizei-Einsatzleiter aus einem Wohnungsfenster am Demonstrationsweg Israelfahnen entfernen.

Wie es sein könne, dass am Ende nicht die Steinewerfer verfolgt würden, sondern die, die lediglich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnähmen, wollte Jäger wissen, und: Innenminister Wolf müsse erklären, „wie es zu so einer Fehleinschätzung kommt, dass die Polizei meint, der Situation nicht anders Herr werden zu können“. Der gleiche Polizist hätte nach einem späteren Bericht der Staatsanwaltschaft am 24. Juli 2010 frühzeitig erkennen müssen, dass die eingesetzten Polizeikräfte bei der Loveparade nicht ausreichten, um das tödliche Gedränge zu verhindern. Ein kundiger Polizeiführer, so der staatsanwaltliche Bericht, hätte zwei Stunden vor dem tödlichen Gedränge reagieren müssen.

Weil sie vom tatsächlichen Geschehen an diesem 24. Juli 2010 keine Ahnung hatten, verließen Jäger und Schmeling gegen 17 Uhr die Tribüne, als die Katastrophe ihren Lauf nahm. Jäger soll — mangels eines öffentlichen Verfahrens wurde dies nie geklärt — mit polizeilicher Eskorte zunächst nach Hause zur Geburtstagsfeier seiner Tochter gefahren sein. Wann und von wem ihm berichtet wurde, dass sich in diesen Stunden am alten Güterbahnhof eine furchtbare Katastrophe abspielte, ist unklar. Doch zwischen 18 und 19 Uhr zeigte er sich in der Live-Berichterstattung des WDR am Duisburger Rathaus, um 20 Uhr saß Jäger im Rathaus gemeinsam mit Vertretern der Stadt auf dem Podium der ersten Pressekonferenz.

In den ARD-Brennpunkt zur Loveparade, der sich direkt an die Tagesschau anschloss, wurde jedoch erneut nicht der allzeit Medien-bereite Innenminister, sondern der städtische Beigeordnete Wolfgang Rabe eingespielt. So blieb es Jäger erspart, die faktisch falsche Ursachen-Version zu verbreiten, die bis dahin bekannten 16 Toten seien an ihrem Schicksal mehr oder weniger selbst schuld gewesen, weil sie angeblich beim Klettern über Absperrungen und an Mastenhinauf abgestürzt seien. Tatsächlich starben die Opfer, weil sie im Gedränge des außer Kontrolle geratenen Zugangs unter einen „Menschenberg“ gerieten und elend erstickten.

Nach der Loveparade behauptete Jäger über Wochen steif und fest, die Polizei habe alles richtig gemacht. Fehler wurden nur eingeräumt, wenn sie scheibchenweise herauskamen. Mit den Fehlern kam allerdings nie heraus, ob Jäger davon vorher wusste und davon hätte wissen müssen. Gleiches galt 2014 nach der Misshandlung von Flüchtlingen in der Unterkunft Burbach, als klar wurde, dass das Innenministerium nicht ausreichend auf die Problematik der überfüllten Flüchtlingsheime reagiert hatte. Und heraus kam, dass der Dortmunder SPD-Oberbürgermeister Ullrich Sierau bereits im August 2013 in einem persönlichen Brief an Jäger auf die Probleme in seiner Stadt hingewiesen hatte. Und heraus kam, dass der Bürgermeister von Burbach, Christoph Ewers (CDU), auf die unhaltbaren Zustände in der Flüchtlingsunterkunft vor den Übergriffen hingewiesen hatte. Persönlich. Im Innenministerium in Düsseldorf.

Nach den Maßstäben, die Jäger als SPD-Fraktionsvize bei der Dauer-Jagd auf seinen Amtsvorgänger Wolf bis zum Sommer 2010 setzte, dürfte er selbst eigentlich nicht mehr im Amt sein. Vor dem Rücktritt bewahrten ihn bisher seine unbestrittene Tüchtigkeit, sein dickes Fell und sehr viel Glück. Das scheint nun aufgebraucht.