NRW Hilft die Contergan-Studie weiter?
120 Betroffene diskutieren in Düsseldorf über die Verantwortung des Landes NRW in dem 60 Jahre zurückliegenden Pharma-Skandal.
Düsseldorf. Wenn das NRW-Gesundheitsministerium, wie im Mai geschehen, einen Bericht zur „Haltung des Landes im Contergan-Skandal der 60er Jahre“ veröffentlicht, dann — so denkt man — liegt das wohl auch im Interesse der Betroffenen. Doch als der Autor, der Historiker Niklas Lenhard-Schramm, den 690-Seiten-Bericht am Mittwoch in Düsseldorf vor 120 Contergan-Geschädigten und ihren Angehörigen vorstellt, schlägt ihm teils heftige Kritik entgegen: was alles nicht oder falsch beleuchtet oder gar „weichgespült“ worden sei bei diesem Lebensthema der Betroffenen. Ein Thema, mit dem sie auch angesichts ihres fortschreitenden Alters (sie sind heute zwischen 56 und 61 Jahre alt) immer schwerer zurechtkommen.
Da kommt schon Kritik an dem Titel der Arbeit auf, in dem von der „Haltung des Landes“ die Rede ist. Es gehe um Schuld und Verantwortung des Landes, in dem ein solcher Skandal, verursacht von der Chemiefirma Grünenthal aus Stolberg bei Aachen, passieren konnte. Ein anderer Kritiker zeigt sich erschüttert, dass hier Forschung an den Betroffenen vorbei getrieben worden sei. Kein Contergan-Geschädigter sei in dem die Arbeit begleitenden wissenschaftlichen Beirat gewesen. Was Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) damit erklärt, dass sichergestellt werden sollte, dass später keine Einflussnahme auf den Bericht unterstellt wird. Sie verwahrt sich gegen das Wort „weichgespült“. Das sei ein ungerechter Vorwurf, der Historiker — das sei seine Aufgabe — habe anhand der zugänglichen Dokumente den Skandal aufgearbeitet und dargestellt.
Immer wieder entzündet sich am Mittwoch die Diskussion auch daran, dass der Bericht nicht ausführlich genug beleuchte, dass mit Josef Neuberger ausgerechnet ein Jurist, der Grünenthal-Angeklagte vertreten hatte, dann auch noch 1966 NRW-Justizminister wurde. Emotional auch die Debatte darum, dass der Autor der Studie Contergan als „Lifestyle-Medikament“ bezeichnet hatte. Vorwurf aus dem Publikum: „Das verunglimpft unsere Mütter, weil so der Eindruck entsteht, dass sie es für hip hielten, die Tabletten zu nehmen.“ Das Beruhigungsmittel sei vielen Frauen von ihrem Arzt verschrieben worden. Autor Lenhard-Schramm bedauert, dass dies so verstanden werde, es sei ein wissenschaftlicher Fachausdruck und „keinesfalls als Mangel an Wertschätzung gegenüber den Müttern zu verstehen.“
Für Petra Linner sind die Debatten darum, was in der Forschungsarbeit wie ausführlich behandelt wird, eher zweitrangig. Für die 1961 geborene Rüsselsheimerin ist es erst einmal positiv, dass das Thema aufgearbeitet wurde. Wichtiger sei aber, „was wir Betroffene davon haben“. Bei den jetzt ins Rentenalter Kommenden seien über die bestehenden Renten hinaus wichtige Dinge zu regeln: „Dass endlich auch Folgeschäden bewertet und einbezogen werden, die durch die jahrzehntelange Fehlbelastung zwangsläufig entstehen.“ Und dass Angehörige, die sich Tag für Tag engagieren, rentenrechtlich abgesichert werden. Auch sollte sichergestellt werden, dass Angehörige, die Erben von Contergan-Geschädigten werden, nicht später vom Sozialamt für das Zurückzahlen von Assistenzgeldern in Haftung genommen werden.
Welch starken Willen Petra Linner, die 16 Jahre lang eine Logopädie-Praxis betrieb, zur alltäglichen Lebensbewältigung aufbrachte, lässt sich nur erahnen, wenn man die Rollstuhlfahrerin mit Fehlbildungen an Armen und Beinen sieht. Ihre vor 15 Jahren gestorbene Mutter, so sagt sie, konnte nie mit ihr über das Thema reden. „Den Frauen wurde doch damals Schuld suggeriert“, versucht Linners Partner Andreas Zoz eine Erklärung. Der 62-Jährige mit der positiven Ausstrahlung betont ausdrücklich: Ich sehe mich als Partner, nicht als Pfleger.“ Die trotz ihres Schicksals lebensfroh wirkende Petra Linner hört das offensichtlich gern.
Dass sich der Staat nun weiter engagieren müsse, daran sei er selbst schuld, sagt Petra Linner — „weil er die Firma Grünenthal damals so billig hat davonkommen lassen“. Und auch zu Grünenthal, dem weiter aktiven Pharmaunternehmen, hat sie ihre Meinung: „Ich will keine Entschuldigung, weil die Verantwortlichen von damals ja längst nicht mehr da sind.“
Katrin Grüber, frühere Grünen-Abgeordnete im NRW-Landtag und heutige Leiterin des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft in Berlin, hält dem bösen Vorwurf, der Bericht sei „weichgespült“, ein leidenschaftliches Plädoyer für den Autor entgegen: Die „richtig gute Studie“ sollte Grundlage für die Fortbildung in den Behörden werden. Als Maßstab dafür, ob man Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehme, und was man aus den damaligen Fehlern lernen kann.
Bei der Frage, was nun konkret aus dem Bericht folgt, will Gesundheitsministerin Barbaras Steffens keine Hoffnungen machen. Die Studie soll keinesfalls ein Schlussstrich sein, das Thema werde auch in den Landtagsausschuss kommen. Und man werde gemeinsam die Diskussion um die Inpflichtnahme des Hersteller-Unternehmens Grünenthal anstoßen. „Was wir nicht rechtlich, sondern nur politisch können“, sagt sie. Und sie wolle den Betroffenen auch keine Hoffnung ohne Faktenbasis machen. Aufgrund der Studie kann man nicht irgendwelche Prozesse gewinnen“, dämpft sie mögliche Erwartungen. „Hoffnungen, die enttäuscht werden, haben Sie schon zu viele gemacht.“