Klartext NRW-Europaminister Liminski: „Die Zeit der Orchideenthemen ist vorbei“

Interview | Düsseldorf · NRW-Europaminister Nathanael Liminski (CDU) über die gewaltigen Folgen der Europawahl in Europa, Deutschland und NRW – und klare Forderungen an die Ampelregierung.

 Seit dem 29. Juni 2022 ist Nathanael Liminski Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen und Chef der Staatskanzlei.

Seit dem 29. Juni 2022 ist Nathanael Liminski Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen und Chef der Staatskanzlei.

Foto: Liminski

Nach der Europawahl ist vor den Landtagswahlen im Osten der Republik. Die Schockwellen von Sonntag wirken nach. Wie analysiert das der nordrhein-westfälische Europaminister Nathanael Liminski? Wir fragen nach.

Herr Europaminister Liminski, in Frankreich ruft Macron zur Neuwahl auf, in Österreich sind die Rechten stärkste Kraft, in Italien holt Meloni 20 Prozent mehr als bei der letzten Wahl, in Deutschland fordern alle von Bundeskanzler Olaf Scholz Neuwahlen. Ist das Chaos oder absehbare Reaktion auf so lange nicht erledigte Probleme in Europa?

Nathanael Liminski: Leider kommt das mit Ansage. Seit Monaten weisen wir als Landesregierung gegenüber der Ampel-Koalition darauf hin, dass das ungelöste Problem der illegalen Migration und die Tatenlosigkeit bei der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit die Leute wütend macht. Es wurde geredet und gestritten, aber nicht gehandelt. Diese Wahl zeigt: Das Prinzip Hoffnung ist kein Programm für eine Regierung. Die Wahlerfolge der AfD und des BSW sind ein Warnsignal, das von allen demokratischen Kräften ernst genommen werden muss. Haltung alleine reicht eben nicht für die Befriedung einer offenen Gesellschaft. Handlung muss dazukommen, insbesondere auch von der Ampel. Aber auch Europa muss jetzt Handlungsfähigkeit zeigen. Es geht um nicht weniger als darum, der Idee des Westens neue Kraft zu verleihen – rechtzeitig mit Blick auf drängende Herausforderungen wie die schwierige Lage in der Ukraine, rechtzeitig aber auch mit Blick auf das nächste demokratische Großereignis im Weltformat, den Präsidentschaftswahlen in den USA.

Was ist in Sachen Migrationspolitik unumgänglich geworden?

Liminski: Ich war im April in einem Flüchtlings–Erstaufnahmelager auf Zypern. An Orten wie diesen bekommt die oft abstrakt diskutierte Frage der Migration ein menschliches Gesicht. Familien, die auf dem Bürgersteig sitzen, und ihr ganzes Leben in Form von wenigen Papieren in der Hand halten und verzweifelt nach einem Weg nach Europa suchen. So gut die Hilfe dort geleistet wird, so klar ist einem vor Ort: So kann das nicht weitergehen. Der Status Quo ist unmenschlich und dient keinem außer den Schleppern und Schleusern, die das Massensterben auf dem Mittelmeer aus reiner Geldgier befördern. Das müssen wir ändern. Nicht zuletzt auch deshalb, weil unsere Kommunen schon länger mit der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen überfordert werden. Und anders als 2015 müssen wir die gegenwärtige Migrationskrise vor dem Hintergrund einer schwächelnden Wirtschaft bewältigen. Das ist ein potenziell toxisches Gemisch, das wir rechtzeitig entschärfen müssen, bevor populistische Kräfte unsere Demokratie handlungsunfähig machen. Ich denke etwa an die Landtagswahlen im Osten.

Wie entschärfen Sie dieses toxische Gemisch konkret?

Liminski: Die Europawahlergebnisse sind ein Warnschuss an die Ampel: Schluss mit Klientelpolitik, Schluss mit Nabelschau, Schluss mit Streit. Als Union machen wir einen konkreten Vorschlag für mehr Steuerung, Ordnung und Begrenzung in der Migration: das Drittstaaten-Modell mit geordneten Verfahren außerhalb Europas. Wir wollen so Schleusern das Handwerk legen, illegale Migration unterbinden und Fluchtursachen bekämpfen. Wer diese Politik als inhuman schlechtredet, soll selbst ernsthafte Gegenvorschläge machen oder vom hohen Ross der Moral runter. Die Lage ist zu ernst für parteipolitische Streitereien. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren, das kostet uns jeden Tag Vertrauen, das höchste Gut in der Demokratie.

Ist es aus Ihrer Sicht sinnvoll, in Europa an den populistischen und rechten Parteien vorbei eine Regierungskommission zu bilden oder unter demokratischen Gesichtspunkten sogar geboten, etwa eine Politikerin wie Meloni einzubinden?

Liminski: Unser Ziel ist es, aus der Mitte des Europäischen Parlaments heraus eine Mehrheit für eine zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen zu bilden. Rechnerisch ist das auf Grundlage des Wahlergebnisses möglich. Am Ende ist entscheidend, dass wir eine entscheidungs- und handlungsfähige Kommission bekommen, die der aktuellen Lage Rechnung trägt und ihre Schwerpunkte in den Bereichen Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit setzt. Die Zeit der Orchideenthemen ist vorbei. Wir brauchen den Fokus auf die Brot- und Butterthemen, damit Europa in den kommenden Jahren Freiheit, Sicherheit und Wohlstand sichern kann.

Die Europawahl in Deutschland scheint auch Abstimmung über die Ampel in Berlin gewesen zu sein. Sie ist im Ansatz marginalisiert. Muss die Ampel sich selbst in Frage und der Kanzler die Vertrauensfrage stellen, wie Carsten Linnemann das fordert, oder sehen Sie für dieses Bündnis eine Zukunft?

Liminski: Die Akteure der Ampel müssen endlich einsehen, was sie anrichten. Ich würde mir angesichts der Klarheit von Sigmar Gabriel wünschen, dass die schonungslose Analyse nicht alleine ehemaligen Parteivorsitzenden der SPD überlassen wird, sondern von jenen betrieben wird, die gegenwärtig Verantwortung tragen. Aber auch diese in jedem Krisenmoment liegende Chance hat der Kanzler verpasst. Selten habe ich als Deutsch-Franzose den Unterschied in der politischen Kultur und Führung frappierender erlebt als am Wahlabend: Von Präsident Macron direkt nach dem Wahlergebnis das Zeichen „Ich habe verstanden“ und die Ankündigung von Neuwahlen, von Kanzler Scholz zuerst ein schnödes „Nö“ und nach 24 Stunden ein „Alles wird wieder gut“.

In Sachsen haben die Menschen fast 50 Prozent der Stimmen an AfD und BSW vergeben. Der Osten ist blau, der Westen ist schwarz. Was schlussfolgern sie daraus, auch was konkrete Inhalte angeht?

Liminski: Die Zahlen sind besorgniserregend und zeigen, wie viel Arbeit vor den Landtagswahlen im Osten noch vor uns liegt. Als NRW nehmen wir Anteil, packen mit an. Nicht ohne Grund waren wir zwei Tage nach der Europawahl und drei Monate vor der Landtagswahl zur gemeinsamen Kabinettssitzung in Sachsen. Wir dürfen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren, sondern müssen ins Handeln kommen. Es braucht Klugheit, Klarheit und Konsequenz. Gutes politisches Handwerk, um konkrete Probleme zu lösen, die die Menschen umtreiben, ist die beste Antwort auf Populismus. Die Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler in der nächsten Woche ist dafür bereits eine Chance. Nachdenklich stimmen mich aber auch die hohen Zustimmungswerte junger Wählerinnen und Wähler für extreme Parteien – und zwar in Ost und West. Das zeigt den Handlungsbedarf für politische Bildung und Extremismusprävention. Und es zeigt, dass die Parteien der Mitte den digitalen Raum als Raum der direkten Ansprache für junge Menschen viel ernster nehmen müssen.

Wie ordnen Sie die Ergebnisse in NRW ein? Die CDU ist stärker als im Bund, die Grünen schwächer als zuletzt. Werden Kompromisse dadurch schwieriger?

Liminski: Die NRW–CDU kann stolz darauf sein, ein im Ländervergleich überdurchschnittliches Ergebnis eingefahren zu haben. Das ist in Regierungsverantwortung alles andere als selbstverständlich. Und das ist ein großer Vertrauensbeweis der Wählerinnen und Wähler für Ministerpräsident Hendrik Wüst und seinen Kurs der Mitte. Die AfD liegt hier in NRW gleichzeitig deutlich unter ihrem bundesweiten Ergebnis und landet hinter SPD und Grünen auf Platz vier. Es zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger eine Regierung unterstützen, die trotz mancher Unterschiede konstruktiv und lösungsorientiert zusammenarbeitet. Das Ergebnis bestärkt uns darin, unseren Kurs von Ambition und Akzeptanz, von Maß und Mitte in NRW gemeinsam fortzusetzen.