Im Gespräch Wie Walter-Borjans auf den Kanzler Scholz blickt

Exklusiv | DÜSSELDORF · Interview: Der ehemalige NRW-Finanzminister und SPD-Bundesvorsitzende sagt im Gespräch mit dieser Zeitung: „Das Kanzleramt scheint vielen als Elfenbeinturm“

Eine Szene aus September 2020: Norbert Walter-Borjans (l.), seinerzeit Vorsitzender der SPD, mit dem damaligen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz vor Journalisten.

Eine Szene aus September 2020: Norbert Walter-Borjans (l.), seinerzeit Vorsitzender der SPD, mit dem damaligen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz vor Journalisten.

Foto: dpa/Britta Pedersen

Auf dem SPD-Bundesparteitag im Dezember 2021 ist Norbert Walter-Borjans nicht wieder als Vorsitzender angetreten, sein Nachfolger ist Lars Klingbeil. Im Gespräch mit dieser Zeitung wirft Walter-Borjans jetzt einen kritischen Blick auf die Kanzlerschaft von Olaf Scholz (SPD). Vor allem auf dessen Art der Kommunikation. Und auch an der FDP stört sich „Nowabo“.

Herr Walter-Borjans, zuerst müssen wir über die SPD sprechen. Fragen Sie sich angesichts der aktuellen Umfragen, ob sie den Vorsitz dieser Partei zu früh abgegeben haben?

Norbert Walter-Borjans: ich bin jetzt 71, und ich bin mit meiner Entscheidung absolut im Reinen.  Es gibt immer noch viele Einladungen der Parteibasis. Auch da möchte ich nach zwei Jahren eher kürzertreten. Ich höre hin und wieder das Kompliment, Darling der Basis geblieben zu sein. Das schmeichelt zweifellos, macht mich aber auch nachdenklich. Die Mitglieder – und nicht nur die – fühlen sich zu wenig mitgenommen. Sie finden, dass eine klare Haltung zu vielen Themen in Berlin zu wenig sichtbar ist und versäumt wird, sie auch bei Gegenwind zu erklären. Je vielschichtiger die Krisen, desto mehr kommt es darauf an, neben guten Sachargumenten auch eine emotionale Bindung zu schaffen. Wenn die Probleme den Leuten über den Kopf wachsen, wird Vertrauen als Währung umso wichtiger.

Der Kanzler Olaf Scholz gilt vielen als das Problem und nicht als die Chance der Sozialdemokraten. Der oft gehörte Befund: schlechte Kommunikation, keine Führung. Das muss einem wie Ihnen, der Scholz mit aufgestellt hat und selbst als Kommunikator gilt, wehtun.

Walter-Borjans: Saskia Esken und ich sind 2019 angetreten, weil wir das Hineinhören in die Stimmung der Menschen im Land als verkümmert empfanden. Ich war durchaus beteiligt daran, dass wir das für die SPD in der Endphase der Großen Koalition verbessert haben. Und ja, ich habe auch meinen Anteil daran, wer Kanzlerkandidat und wer mein Nachfolger in der SPD geworden ist. Ich weiß auch, wie schwer es in dieser Zeit ist, mit Botschaften durchzudringen. Ich weiß aber auch, dass man mit einer klaren Haltung und dem Mut anzuecken nicht nur – gelegentlich hoch gehende – Wogen des Widerspruchs, sondern auch der Zustimmung erntet. Wenn es keine Höhen und keine Tiefen gibt, gibt es auch kein erlebbares Profil.

Wer trägt die Verantwortung?

Walter-Borjans: Es ist immer schwer zu erklären, dass wir Wohlstand und Zusammenhalt nur bewahren können, wenn wir zur Veränderung bereit sind. Wer Stimmung gegen Veränderung macht, hat es leichter. Und wer dafür eintritt, dass die Gräben zwischen Unten und Oben kleiner und nicht größer werden, bekommt es mit mächtigen Lobbies zu tun, die auch über enormen medialen Einfluss verfügen. Wer sich fügt, bekommt die besten Kritiken. Dagegen helfen aber weder Trotz noch Schweigen. Was nötig ist, ist Empathie, Nahbarkeit und offene Ansprache. Wenn die Verantwortlichen einen nicht emotional mitnehmen, dann tun es die Verantwortungslosen. Es gibt einen Mangel an Kommunikation, aber auch an Koordination.

Genau dieser Mangel wird von vielen im Kanzleramt erkannt. Wie sehen Sie Olaf Scholz im Amt, auch aus der Ihren Erwartungen von 2021 heraus?

Walter-Borjans: Ich habe ihn immer als einen sozial verantwortlich handelnden, pragmatischen Menschen erlebt. Seine Besonnenheit hat uns schon um manche Klippe herummanövriert. Das kommt aber nur teilweise rüber. Das Kanzleramt erscheint vielen als Elfenbeinturm. Mein Eindruck ist, dass die Leute weniger nach jemandem suchen, dem sie in jedem Punkt zustimmen können, als nach jemandem, den sie als einen aus ihrer Mitte akzeptieren, der uns alle durch die Untiefen führt.  Wenn Apotheker, Ärzte, Bauern bisher unbekannte Protestwellen lostreten, wenn das Heizungsthema, der Haushalt insgesamt in der Koalition in Frage gestellt werden, kaum, dass sie verabschiedet sind, hat das nicht nur mit einem auf Obstruktion ausgerichteten Oppositionsverständnis zu tun, assistiert und getrieben von ein paar einschlägigen Medien. Es hat auch mit offenkundigen Fehleinschätzungen des für die Koordination zuständigen Kanzleramts zu tun. Dass Friedrich Merz und die BILD-Zeitung daraus Kapital zu schlagen versuchen, ist keine wirkliche Überraschung.

Was raten Sie Olaf Scholz?

Walter-Borjans:  Ich hänge mich nicht ans Telefon und gebe ungebetene Ratschläge. Aber ich mache mir natürlich Gedanken, auch aus einer verantwortlichen Rolle von einst heraus, wie wir in diesen Zeiten kommunizieren müssen. Das gilt beileibe nicht nur für den Kanzler. Wie Sie wissen, war ich viele Jahre lang ein enger Mitarbeiter Johannes Raus. Er ist damals gelegentlich von selbst ernannten „Machern“ belächelt worden. Aber er hatte nicht nur die Sympathie der Menschen, sondern hat in einem Land des Strukturwandels mehr auf den Weg gebracht als andere. Ich habe mich gern an der Neugründung der Johannes-Rau-Gesellschaft beteiligt, weil ich glaube, dass die Berliner Politikszene eine Prise Rau’schen Politikstils gut vertragen könnte – gern kombiniert mit Lehrsätzen anderer, etwa Willy Brandts. Der hat in seiner Rede zum Abschied aus dem Amt des Parteivorsitzenden 1987 gesagt: „Sich nicht zu weit von dem zu entfernen, was viele aufzunehmen geneigt und mitzutragen bereit sind, gehört zur eisernen Wissensration einer Volkspartei, die nicht auf die Oppositionsbänke abonniert ist“. Wohl gemerkt: „Nicht zu weit“ ist kein Verzicht auf mutiges Vorangehen.

Herr Walter-Borjans, wir wollen auch mit Ihnen über die Schuldenbremse sprechen. Braucht es sie weiter? Braucht es sie verändert? oder muss sie weg?

Walter-Borjans: Schulden sind kein Selbstzweck, aber Kredite abzulehnen, die im Saldo mit dem, was sie bewirken, ein Gewinn für die Zukunft sind, ist grotesk missverstandene Generationengerechtigkeit. Als ich 2011 im NRW- Landtag die Schuldenbremse eine Selbstentmündigung der Politik genannt habe, hat mir ein Journalist empört vorgehalten, ich glaubte offenbar, es gäbe gute und schlechte Schulden. Aber genauso ist es! Wir fallen derzeit bei Investitionen in die Zukunft nicht nur gegenüber China, sondern auch gegenüber den USA immer weiter zurück, weil wir dafür keine Kredite aufnehmen dürfen. Das wären wirklich gute Schulden. So sträflich würde die oft zitierte schwäbische Hausfrau nicht handeln, wenn es bei ihr durchs Dach regnen würde. Die Kreditfinanzierung von Zukunftsvorhaben sollte nicht nur möglich sein, sie wäre auch generationengerecht. Warum sollen nicht alle Jahrgänge mitbezahlen, die auch einen Nutzen von Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Forschung haben? Wenn alle Zukunftsinvestitionen aus laufenden Einnahmen finanzierbar wären, wäre das ein untrügliches Zeichen dafür, dass entweder Gegenwartsaufgaben zu kurz kommen und/oder die Steuern zu hoch sind. Ich könnte heute für mich in Anspruch nehmen, dass ich weit vor anderen das gesagt habe, was gängige Meinung in unternehmerischer Praxis ebenso wie in der Wissenschaft ist. Es ist eben nur immer noch nicht die Position derer, die regieren. Zuerst meine ich da Finanzminister Christian Lindner.

Ist die Schuldenbremse für eine FDP aus der ureigenen Intention liberaler Politik aus Ihrer Sicht tatsächlich nicht verhandelbar?

Walter-Borjans: Ich sage es mal so: Christian Lindner hat eine gewisse Vorliebe für Schlagworte. Was er „Sparen“ und „Schuldenfreiheit“ nennt, sind in Wirklichkeit „Kürzen am falschen Ende“ und „Verzicht auf Zukunft“.  Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das nicht klar ist. Er kommt nur schlecht von diesem Irrweg herunter. Eine Hintertür hat das Bundesverfassungsgericht versperrt. Ich halte eine vernünftige Korrektur nur für eine Frage der Zeit – hoffentlich ohne Umgehungsversuche, die weiter Zeit und Vertrauen kosten.

Und ohne die FDP hätten Sie freie Fahrt?

Walter-Borjans: Es war auch in der Großen Koalition schon schwierig. Schon als Saskia Esken und ich im Oktober 2019 für den Vorsitz der SPD kandidierten, sagte eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung - also eine Kombination aus unternehmer- und gewerkschaftsnaher Forschung - Deutschland brauche in den nächsten zehn Jahren mindestens zusätzliche 500 Milliarden an Investitionen in Forschung, Technologie, Infrastruktur, Bildung und mehr – kreditfinanziert. Das war noch vor Corona und ist mittlerweile nochmal deutlich hochgeschraubt worden. Das rechnet in der gesamten Ökonomie niemand mehr kleiner. Ich wollte die Groko dahin bekommen, über ein solches Investitionsprogramm nachzudenken. Wir haben uns damals in einer Arbeitsgruppe der Koalition im ersten Schritt auf bundesseitig 140 Milliarden Euro verständigt. Die Bereitschaft, daraus die notwendige wirkungsvolle Welle zu machen, war damals gering, und sie ist es auch heute, weil die Angst überwiegt, selbst dann als „Schuldenmacher“ gejagt zu werden, wenn damit das Fundament für die Zukunft gelegt wird.

Sie haben kürzlich über das neue Bündnis Sahra Wagenknecht geschrieben, das BSW wäre am Ende die bessere Alternative als der völkisch-braune Sumpf. Lässt sich da Sympathie erkennen oder ist es ein Warnschuss an die Regierenden?

Walter-Borjans:  Ich halte von der Zersplitterung der Parteienlandschaft gar nichts. Die erhöht die Regierbarkeit eines Landes nicht, im Gegenteil. Deshalb sehe ich darin vor allem einen Weckruf an die tragenden Parteien in dieser Demokratie, sich nicht im Gegeneinander zu erschöpfen, sondern Stimmung und Handlungsbedarf zusammenzubringen. Mit Richard von Weizsäcker gesprochen: das langfristig Notwendige kurzfristig mehrheitsfähig zu machen. Die Wagenknecht-Partei wird noch ihre liebe Not damit haben, die obskuren Kräfte fernzuhalten, die in der AfD hinter der Fassade der „Volksmeinung“ ihr völkisch-braunes Unwesen vorbereiten.

Besorgt Sie nicht die zunehmend drohende Zersplitterung in der Parteienlandschaft?

Walter-Borjans: Es gibt eine Tendenz, dem anstrengenden Ringen um Mehrheiten in den Volksparteien durch Abspaltung aus dem Weg zu gehen. Die Folge ist, dass sich das Ringen in Koalitionsverhandlungen von drei, vier oder fünf Parteien verlagert – wie etwa in den Niederlanden. Das führt zu Regierungen, die alles andere als stabil sind. Bei uns waren die Volksparteien immer ein großer Stabilisator. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen.

Ist die SPD noch Volkspartei?

Walter-Borjans: Eindeutig ja. Ich hatte darüber einmal eine spannende Diskussion mit der Politikwissenschaftlerin Ursula Münch. Unser Ergebnis war, dass der Charakter der Volkspartei sich nicht an Prozentzahlen festmacht, sondern daran, ob sich eine Partei der Gesellschaft insgesamt verpflichtet sieht oder einzelnen Segmenten. Wenn die SPD in allen Wählerschichten auf 20 Prozent käme, wäre das zwar nicht zufriedenstellend, aber ihr Anspruch wäre der einer Volkspartei. Wenn eine Partei auf 20 Prozent käme, weil sie eine bestimmte Wählerklientel zu 100 Prozent erreicht, vier Fünftel aber gar nicht, wäre sie mit dem gleichen Wähleranteil eine absolute Klientelpartei. Die politische Geographie droht sich allerdings zu verschieben, auch zu unseren Ungunsten. Der Blick nach Osten und Süden zeigt das. Die SPD muss deshalb alles dafür tun, um überall in der gesamten Breite vertreten zu bleiben und Ängste ernst zu nehmen – vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung, des Lebensunterhalts bis hin zur Sorge um ein friedliches Zusammenleben. Zwei Dinge sind dafür notwendig: diese Meinungsbreite in der Partei weiter zuzulassen und sich um mehr Glaubwürdigkeit in all diesen Gruppen zu bemühen. Die SPD hat in ihren Reihen viele überzeugende sympathische Köpfe, ist aber traditionell monozentriert. Sie sollte ihr großes Potenzial nicht verstecken.

Herr Walter-Borjans, schauen wir in die Kugel. Was passiert mit dieser Ampelregierung?

Walter-Borjans: Die FDP ist ein Risikofaktor, weil sie nicht weiß, in welchem Wählersegment sie fischen soll. Christian Lindner müsste doch merken, dass er mit Schlagworten und Quertreiberei nirgends punktet. Die FDP bekommt nicht mehr die Stimmen der Laschet-Verweigerer. Er verschreckt Wirtschaftsliberale, Ökoliberale und Sozialliberale gleichermaßen. Er krebst an der 5 Prozentmarke herum. Die Frage ist: Wie groß ist da der Reiz, es irgendwann so zu machen, wie Otto Graf Lambsdorff 1982 mit seinem Lambsdorff-Papier, das den Bruch der sozialliberalen Koalition ausgelöst hat? Lindner würde damit Schiffbruch erleiden. Ich glaube nach wie vor daran, dass alle drei Ampelfarben am besten zu dem für Deutschland notwendigen Fortschritt beitragen können, auf den wir uns 2021 mit dem Koalitionsvertrag verständigt haben. Dafür wäre das notwendig, was wir seinerzeit in der SPD geschafft haben:  offene Aussprache nach innen, dann gemeinsame Haltung nach draußen. Und mit Hingabe erklären, was wir warum machen. Sich in der Ampel gegeneinander zu profilieren hieße einem Friedrich Merz den Weg zu ebnen, der weder für Regierungserfahrung und schon gar nicht für Zukunft steht.