Thomas Haldenwang „Demokratie in Deutschland ist ernsthaft in Gefahr“

Interview · Bundesverfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang über neue Proteste gegen rechts, ein AfD-Verbot, große Terrorgefahren und das Problem Antisemitismus

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), im Gespräch.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Herr Haldenwang, ist unsere Gesellschaft Ihrem Eindruck nach zu nachlässig geworden, wenn es um die Verteidigung der demokratischen Kultur geht? Langsam regt sich ja jetzt Widerstand auf den Straßen, das Klima hatte sich zuletzt doch zunehmend verschlechtert.

Haldenwang: Ich habe immer wieder gesagt: die Bevölkerung muss wach werden und wir alle müssen für diese Demokratie kämpfen. Die Demokratie in Deutschland ist ernsthaft in Gefahr durch verschiedene Entwicklungen. Und da rede ich jetzt nicht nur über islamistischen Terrorismus und Rechtsextremismus, sondern wir befinden uns weltweit in einem Kampf der Systeme. In Deutschland haben sich die Menschen in der Demokratie bequem eingerichtet. In der Erwartung, dass sich andere darum kümmern, dass Bedrohung abgewendet wird. Es wäre wünschenswert, wenn die schweigende Mehrheit unserer Bevölkerung klar gegen Extremismus und Antisemitismus Position beziehen würde. Und erfreulicherweise demonstrieren aktuell viele Menschen dagegen.

Auch der Respekt vor den Institutionen lässt in Deutschland spürbar nach, aus allen Richtungen.

Haldenwang: Der Extremismus sucht Anschluss an die Mitte der Gesellschaft. Der Respekt vor dem Staat lässt nach, das haben wir während der Corona-Pandemie ja schon erfahren, etwa von Querdenkern, die den Boden der Verfassung verlassen haben. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass all diese Gruppen und Grüppchen immer noch eine deutliche Minderheit sind. Die große Masse der Bevölkerung hat Vertrauen in dieses demokratische System.

Sind wir diesbezüglich in der Mitte der Gesellschaft gut aufgestellt, was die Parteien angeht und deren Sicht auf diese Problematik?

Haldenwang: In allen demokratischen Parteien der Mitte hat man den Ernst der Lage erkannt. Das sieht man auch daran, dass das Thema Umgang mit der AfD deutlich intensiver diskutiert wird als das noch vor einigen Monaten der Fall war. Inzwischen führt man ja sogar eine Debatte darüber, ob diese Partei verboten werden sollte.

Sollte sie denn verboten werden?

Haldenwang: Ich halte es für sehr klug, dass man sich politisch mit der AfD auseinandersetzt. Und dass man dem Bürger klarmacht, was das für ihn bedeutet, wenn diese Partei ihre Ziele umsetzt.

Wie stehen Sie selbst tatsächlich zu einem Verbot der AfD?

Haldenwang: Wir bearbeiten die AfD ja als Verdachtsfall, und eine Entscheidung dazu wird hoffentlich Ende Februar in Münster vor dem Oberverwaltungsgericht fallen, weil die AfD dagegen geklagt hat. Bis dahin werde ich mich zu diesem Thema nicht äußern.

Für die AfD sind Sie in den vergangenen Monaten spürbar ein rotes Tuch gewesen, weil Sie sich oft sehr eindeutig gegen sie positioniert haben.

Haldenwang: Das scheint so zu sein, wenn ich den Worten einiger AfD-Politiker folge. Besonders in den Sozialen Medien bekomme ich das zu spüren. Das ist nicht besonders freundlich, was ich da lese, lässt mich im Übrigen aber völlig kalt.

Sehen Sie sich dadurch eigentlich auch ganz persönlich in Gefahr?

Haldenwang: Die Maßnahmen, meine Sicherheit zu gewährleisten, sind zuletzt noch einmal intensiviert worden. Das empfinde ich aber als ausreichend. Alles Weitere nehme ich in Kauf, für mich ist die Tätigkeit als Verfassungsschutzpräsident nicht nur Job, sondern auch Berufung.

Wie denken Sie über die Pläne ihres Vorgängers Maaßen, über die Werte Union eine neuen Partei ins Spiel zu bringen?

Haldenwang: Das ist kein Verfassungsschutzthema.

Es entstehen derzeit aber doch sehr viele feste Interessensgemeinschaften, die offenbar nur noch schwer zueinander zu bringen sind und von der demokratischen Mitte ein ganzes Stück weit entfernt zu agieren scheinen.

Haldenwang: Das ist auch meine Sorge, deswegen werde ich auch immer lauter. Ich habe bei meinen Warnungen auch immer die Weimarer Republik vor Augen. Der Verfassungsschutz wurde ja auch aus den Erfahrungen dieser Zeit gegründet. Wir leben heute in einer wehrhaften Demokratie, in der es sicher nicht mehr möglich wäre, diese mit ihren eigenen Mitteln auszuhebeln. Dennoch muss jeglichen Versuchen entgegengetreten werden. Hier ist die gesamte Gesellschaft gefordert.

Gerade erst sind die Bauernproteste durch das Land gezogen. Waren und sind die in ihrer Substanz ein Fall für den Verfassungsschutz?

Haldenwang: Das ist rustikaler und handfester Protest. Ich kann mich an vorangegangene deftige Bauernproteste erinnern, etwa als mitten in Berlin Mist auf eine Straße gekippt wurde. Wie bei anderen Protesten haben wir auch hier gesehen, dass extremistische Gruppen aus dem rechten Spektrum versuchen, das Ganze für sich zu instrumentalisieren. Sie riefen zur Teilnahme auf und drehen die Spirale durch Hass und Hetze weiter. Wir haben aber nicht festgestellt, dass Extremisten die Proteste steuern oder prägen. Und der Bauernverband distanzierte sich ja ganz klar von Rechtsextremisten. Daher sehe ich bei den Bauernprotesten aktuell selbst keine Verfassungsschutzrelevanz.

Wir haben schon den Eindruck, dass wir in unserer Gesellschaft in einer Art Relativierungsprozess stecken und vieles inzwischen argloser hingenommen wird, etwa auch im Fall der vielen antisemitischen Vorfälle.

Haldenwang: Antisemitismus ist ein sehr wichtiges Feld für uns. Wir haben in den vergangenen fünf Jahren eine deutliche Steigerung von antisemitischen Straf- und Gewalttaten festgestellt. In 2022 waren das 2641 Straftaten. Vom 7. Oktober bis Ende letzten Jahres waren das schon 1200. Die Entwicklung geht steil nach oben. Und es ist nicht nur eine Zahl, sondern auch eine andere Qualität. Es geht nicht mehr nur um verdeckten Antisemitismus über antisemitische Chiffren, die laut Studien immer schon bei über 20 Prozent der Deutschen eine Rolle gespielt haben. Jetzt gibt es Hass und Hetze auf der Straße gegen Israel, gegen Juden. Das Unsagbare scheint wieder sagbar zu sein. Mit Davidsternen werden wieder bestimmte Häuser markiert. Es hat Versuche gegeben, Brandsätze gegen Synagogen zu werfen. Von der Qualität her ist das ein ganz anderes Level. Antisemitismus richtet sich gegen unsere Demokratie. Hier wird die Menschenwürde einzelner Personengruppen verletzt - und diese ist ein Grundwert unseres Grundgesetzes.

Auch in der Neuen Rechten nimmt der Antisemitismus offenbar einen immer größeren Anteil ein.

Haldenwang: Die neue Rechte trug schon immer einen Antisemitismus in sich. Sie verbreitet die Erzählung des „jüdischen Großkapitals von der amerikanischen Ostküste“, die das alles steuert, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Das ist etwa auch Bestandteil des Gedankenguts der Identitären Bewegung um Martin Sellner, die ja auch den „Großen Austausch“ propagiert.

In dem Kontext fiel auch der Begriff „Remigration“, der sogleich zum Unwort des Jahres 2023 gewählt wurde. Was fassen Sie, was fasst die Szene darunter?

Haldenwang: Der Begriff gehört spätestens seit dem Erstarken der Identitären Bewegung zum festen Wortschatz von Akteuren und Gruppen der Neuen Rechten. Extremisten meinen damit letztlich nichts anderes als die Forderung nach Ausweisungen von bestimmten Bevölkerungsgruppen. Dies ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und richtet sich klar gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Beim Thema „Remigration“ fungiert die Neue Rechte somit als geistiger Brandstifter.

Sachsen-Anhalt hat beschlossen, dass jeder, der eingebürgert werden will, ein Bekenntnis zum Staat Israel leisten muss. Halten Sie das für richtig?

Haldenwang: Jeder, der in Deutschland eingebürgert werden möchte, sollte ein Bekenntnis zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung abgeben, deren Bestandteil die Menschenwürde ist. Antisemitismus ist damit nicht vereinbar. Es ist wichtig, Zuwanderern entsprechende Regeln zu vermitteln, die ja für diese nicht automatisch nachvollziehbar sind. Wenn sie in Nordafrika oder dem arabischen Raum sozialisiert worden sind, haben manche von Kindheit an gelernt, dass Israel der Erzfeind ist. Diese Einstellung ist dann bei Grenzübertritt nicht weg.

Herr Haldenwang, Sie haben in den Wochen vor Weihnachten mehrfach die bedrohliche Sicherheitslage festgestellt. Was konkret bedroht denn diese Republik?

Haldenwang: Ich betone immer wieder, dass die Sicherheitslage sehr angespannt ist. Das Risiko terroristischer Anschläge ist so hoch wie seit langem nicht mehr.

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Haldenwang: Wir haben verschiedene Anhaltspunkte. Wir gehen einer höheren Anzahl von Hinweisen nach, die auf entsprechende Tatplanungen hinweisen. Die kommen aus ganz unterschiedlichen Richtungen. In mehreren Fällen haben wir festgestellt, dass es hier nicht nur um Maulheldentum ging, sondern ernsthafte Planungen verfolgt wurden. Insofern gab es in den vergangenen Wochen ja auch eine ganze Reihe von Verhaftungen. Auch die Bedrohung am Kölner Dom musste man ernst nehmen. Man darf jetzt nicht den Rückschluss ziehen, dass nichts dran war, weil Tatverdächtige aus der Haft entlassen wurden. Es gab schlicht keine ausreichende Beweislage für die Gerichte, die Verdächtigen in Haft zu behalten. Polizei und Sicherheitsbehörden stecken da in einem Dilemma. Wie weit lässt man diese Gruppen agieren? Lässt man sie lange weiter agieren, gewinnt man mehr Beweise und hat im Strafverfahren eine bessere Ausgangslage. Andererseits: Wie lange will man riskieren, dass vielleicht schon vorzeitig etwas passiert? Dann hätte man trotz vorliegender Erkenntnisse nicht zugeschlagen. Jetzt war es wichtig, zunächst die Gefahren abzustellen.

Wie geht man denn mit diesen Freigelassenen jetzt um?

Haldenwang: Die Sachverhalte werden weiterbearbeitet, die Verdächtigen gehören ja unterschiedlichen Gruppierungen an. Es gilt auszuschließen, dass neue Taten vorbereitet werden oder die Personen sich neuen Gruppierungen anschließen. Da wird weiter hingeschaut.

Stehen Ihnen dafür alle Instrumente zur Verfügung, die Sie für wichtig halten?

Haldenwang: Wir sind das Frühwarnsystem. Ich habe schon vor Monaten davor gewarnt, dass der IS und hier insbesondere der regionale Ableger „Provinz Khorasan“ an Stärke gewinnen. Dieser, kurz ISPK genannt, fordert dazu auf, Anschläge im Westen zu begehen. Dem IS ist es offenbar gelungen, unter anderem über die Fluchtroute Ukraine Anhänger und Dschihadisten nach Westeuropa einzuschleusen. Es gibt hier in Deutschland also entsprechend ideologisierte Personen in einer Lage, in der wir spätestens nach dem 7. Oktober ohnehin eine Radikalisierung der dschihadistisch-islamistischen Szene sehen.

Woher rührt diese Radikalisierung der vergangenen Monate?

Haldenwang: Schon die Koranverbrennungen in Skandinavien wurden pauschal zum Angriff des Westens auf die muslimische Welt stilisiert. Und natürlich spielt der 7. Oktober eine Rolle, der brutale Terrorangriff der Hamas auf Zivile und Militärs in Israel. Der hat nochmal eine enorme Push-Wirkung erzielt. Die Propaganda ist: Wir Muslime befinden uns im Kampf gegen die Ungläubigen, gegen die Kreuzritter und gegen den gesamten Westen. Wir müssen die al-Aqsa-Moschee gemeinsam verteidigen. Alle einen die gemeinsamen Feindbilder Israel und der Westen: sunnitische und schiitische Extremisten, Hisbollah, Hamas, selbst Al Kaida und IS.

Wie sind wir dagegen aufgestellt?

Haldenwang: Wir verfügen über ein starkes Instrumentarium. Aber Ihre Frage zielt sicher auch darauf ab, wie wichtig internationale Kontakte für uns sind. Dazu sage ich: So wie wir bei Bedrohung im Inland mit nationalen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten, so arbeiten wir bei Bedrohungen aus dem Ausland mit internationalen Behörden und Diensten zusammen. So wie wir Infos von Partnern bekommen, so sind wir auch in der Lage, unsererseits wertvolle Hinweise an diese zu liefern. Das ist eine gute internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus.

Gibt es Warnstufen, nach denen Sie vorgehen, wenn Sie warnen?

Haldenwang: Wir haben kein abgestuftes System, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Wir haben aber natürlich Indikatoren für die Lage, wie etwa die Anzahl der uns vorliegenden Hinweise für Terroraktivitäten. Aber nicht nur die bloße Zahl, sondern auch deren Qualität spielen eine Rolle. Wenn wir in größerer Zahl wertige Hinweise haben, die solche Entwicklungen bestätigen, dann kommen wir zu solchen Einschätzungen der Bedrohungssituation.

Ab wann warnen Sie in diesen Fällen?

Haldenwang:  Zu unserer Aufgabe als Frühwarnsystem gehört es auch zu informieren. Und in einer Situation, wie wir sie im Herbst hatten und jetzt weiterhin haben, hielt ich es für richtig zu informieren.