Politisches Polen in der Schockstarre

Bis Juni muss ein neuer Präsident gewählt werden. Aber wer kandidiert nach der Katastrophe?

Warschau. Die Flugzeugtragödie von Smolensk hat Polen in tiefe Trauer gestürzt - und das politische Warschau in helle Aufruhr versetzt. Wenn sich der EU- und Nato-Partner in den kommenden Wochen aus der Schockstarre nach dem Tod von Präsident Lech Kaczynski und eines Teils der polnischen Führungselite befreit, stellt sich in Warschau dringlich die Frage nach der künftigen Machtverteilung.

Bis Ende Juni muss der neue Staatschef feststehen, aber auch die Führung der Streitkräfte muss neu besetzt werden. "Die moderne Welt hat noch nie eine solche Tragödie erlebt", sagte Ministerpräsident Donald Tusk am Samstag nach einer Krisensitzung seines Kabinetts. Gemäß der Verfassung übernahm Parlamentspräsident Bronislaw Komorowski die Amtsgeschäfte des Staatschefs.

Eigentlich sollte die Wahl des Präsidenten, der in Polen alle fünf Jahre direkt vom Volk bestimmt wird, im Oktober stattfinden. Vermutlich wäre es auf ein Rennen zwischen dem bei dem Unglück getöteten nationalkonservativen Amtsinhaber Lech Kaczynski und Komorowski hinausgelaufen, der für Tusks liberale Bürgerplattform antritt.

Komorowski muss nun binnen zwei Wochen einen Termin für die Präsidentenwahl festlegen, die in den 60 Tagen danach stattfinden muss - also bis Ende Juni. Der polnische Staatschef verfügt über erhebliche Vollmachten, ernennt die Regierung, kann Gesetze und internationale Verträge mit einem Veto blockieren und vertritt das Land auf internationalem Parkett.

Derzeit scheint niemand in Warschau zu wissen, wer bei der nun anstehenden Wahl antritt. Einer der Kandidaten, Unterhaus-Vizepräsident Jerzy Szmajdzinski, war unter den Opfern der Tragödie.

Das Augenmerk richtet sich auch auf den Zwillingsbruder und engen politischen Weggefährten des Staatschefs, Jaroslaw Kaczynski. Lech Kaczynski war seit 2005 polnischer Präsident. Um ihm den Weg ins höchste Staatsamt zu ebnen, hatte Jaroslaw zunächst auf das Amt des Ministerpräsidenten verzichtet - mit der Begründung, das polnische Volk werde keinen solchen Doppelpack an der Staatsspitze akzeptieren.

Dies erwies sich aber schon wenig später als bloße Taktik: Im Juli 2006 vereidigte Lech Kaczynski seinen Bruder als Regierungschef, der allerdings nur etwas mehr als ein Jahr im Amt blieb.