Herr Ahrens, waren Sie während Ihrer Kindheit in Erlenbach am Main manchmal neidisch auf die Weihnachtsgeschenke Ihrer Mitschüler?
Interview über das jüdisch-christliche Verhältnis Rabbiner Ahrens: „Auch das Neue Testament ist jüdisch geprägt“
Düsseldorf · Rabbiner Jehoschua Ahrens über Weihnachten unter Katholiken, den Juden Jesus und die Fortschritte im Dialog mit dem Christentum.
„Wir Juden und Christen haben viel mehr gemeinsam, als was uns trennt“ – ein Satz aus der orthodoxen rabbinischen Erklärung zum Christentum, die 2015 veröffentlicht wurde. Zu den Mitinitiatoren gehörte der deutsche Rabbiner Jehoschua Ahrens. Der 41-Jährige ist auch Mitglied der Fachgruppe Christen und Juden der Evangelischen Kirche im Rheinland. Ein Gespräch über den Einfluss des Judentums auf das Christentum – und umgekehrt.
Jehoschua Ahrens: Bei uns gibt es ja zur gleichen Zeit das Lichterfest Chanukka, was sicher kein Zufall ist. Es hat zwar im Judentum keinen so hohen Stellenwert, aber es gibt auch Geschenke und das hat natürlich mit dem Einfluss der christlichen Gesellschaft zu tun. Insofern geht auch Juden in der Weihnachtszeit nichts verloren.
Wie haben Sie damals das Christentum wahrgenommen?
Ahrens: Erlenbach ist eine relativ katholisch geprägte Gegend. Viele Freunde von mir waren Ministranten, hatten ihre Kommunion und Firmung und gingen zur Beichte. Vor allem das Beichten fand ich immer interessant. Ich weiß noch, dass sie beim Warten überlegt haben, was sie jetzt beichten sollen. Es sollte etwas sein, bei dem sie nachher nicht zu viel beten mussten, aber andererseits durfte es auch nicht zu lapidar sein, weil man ihnen das nicht geglaubt hätte. Das fand ich ein interessantes Konzept: Da betet man zwei Vaterunser und drei Ave Maria und dann ist alles vergeben. (schmunzelt)
Wenn Sie heute auf den Juden Jesus blicken: Spielt er überhaupt eine Rolle für Sie?
Ahrens: Theologisch spielt er für uns keine Rolle, aber aus anderer Perspektive schon. Jesus ist jüdisch, seine Jünger sind jüdisch und damit entsprechend auch das gesamte Neue Testament jüdisch geprägt. Und natürlich hat es etwas zu bedeuten, dass das Christentum so direkt aus dem Judentum entstanden ist – im Positiven wie im Negativen. Im Negativen dadurch, dass das Christentum irgendwann versucht hat, sich abzugrenzen, und deshalb eine antijüdische Theologie formuliert hat. Im Positiven dadurch, dass das Christentum in vielen Bereichen mit uns verbunden ist. Außerdem lebten und leben Juden in christlichen Mehrheitsgesellschaften. Nächstes Jahr feiern wir 1700 Jahre Judentum in Deutschland. Und in dieser langen Zeit hatte das Christentum natürlich auch einen Einfluss auf uns.
Sehen Sie Jesus als Glaubensbruder oder auch Rabbiner seiner Zeit?
Ahrens: Man darf nicht den Fehler machen zu denken, was im Alten Testament wortwörtlich steht, sei das Judentum. Denn wir haben neben unserer schriftlichen auch eine mündliche Tradition, die sich später im Talmud niedergeschlagen hat. Und dort sieht man, dass vieles, was Jesus aufgreift, dem damaligen Zeitgeist entsprach. Jesus ist Teil der Vielstimmigkeit des Judentums seiner Zeit. Es gab noch keine Orthodoxie und eine große Pluralität im Judentum. Und Jesu Diskussionen zeigen, dass er das Judentum nicht etwa ablehnt, sondern er diskutiert seine Glaubenspraxis. Einige Positionen, die Jesus vertritt, finden sich auch im Talmud.
Können Sie mit der Weihnachtsbotschaft etwas anfangen, wie sie im Lukasevangelium erzählt wird?
Ahrens: Es gibt in unserer rabbinischen Literatur ganz viele Parallelen, zum Beispiel bei der Geburtsgeschichte Abrahams. Die kennen nur viele Christen nicht, weil sie nicht in der Bibel steht, sondern in der rabbinischen Literatur. Dasselbe gilt für die Geburtsgeschichte von Moses. Die andere Frage ist, ob Jesus der Messias ist. Nach allem, was uns heute bekannt ist, gab es allein in seiner Zeit insgesamt 18 „Messiasse“. Das zeigt, dass es eine Zeit war, in der man wirklich den Messias erwartet hat.
Was wäre eine Weihnachtsbotschaft aus rabbinischer Sicht?
Ahrens: Das ist schwierig, weil für uns Jesus eben nicht der Messias ist. Aber das Judentum ist bei Religionen sehr tolerant. Das kommt von der Geschichte über den Turmbau zu Babel. Wenn Gott möchte, dass es viele Kulturen und Völker gibt, dann muss es automatisch auch viele Perspektiven auf Gott geben und Gott muss verschiedene Boten senden. Damit gibt es auch nicht die eine Wahrheit. Aus unserer Sicht müssen also nicht alle Menschen Juden werden, um später erlöst zu werden, sondern die Menschen müssen einige ethisch-moralische Grundlagen beachten. Und Jesus und seine Nachfolger haben es geschafft, diese Werte in der römischen Gesellschaft zu etablieren. Das ist aus jüdischer Sicht etwas Großartiges. Denn Christinnen und Christen, die diese Werte vertreten, sind unsere Schwestern und Brüder in dieser Welt.
Sie haben vor vier Jahren eine orthodoxe rabbinische Erklärung zum Christentum mitinitiiert, die viele Gemeinsamkeiten der beiden Religionen betont. Was war der Anstoß?
Ahrens: Zum einen war sie eine Reaktion auf 50 Jahre Nostra aetate, die Erklärung der katholischen Kirche, durch die wieder Vertrauen zwischen Christen und Juden aufgebaut wurde. Zum anderen hat sich insbesondere in den letzten 20 Jahren der Dialog verstetigt und gefestigt, sodass wir jetzt zum ersten Mal in der Geschichte einen Dialog auf Augenhöhe haben. Und zum Dritten hatten sich katholische und evangelische Kirche in der Zeit noch einmal klar von der Judenmission distanziert.
Wenn Christen heute sagen, Juden seien ihre älteren Glaubensgeschwister, freut Sie das?
Ahrens: Ja, es freut mich, weil es zeigt, dass es im Christentum eine Wertschätzung der jüdischen Wurzeln gibt. Für mich ist im Dialog auch wichtig, dass Christen mehr über ihr Christentum lernen. Mir geht es gar nicht um uns selbst. Wenn Christen gute Christen sind, müssen wir uns keine Gedanken machen. Antisemitismus entsteht nur dann, wenn Christen ihren Glauben verquer interpretieren oder sich von ihm abwenden.
Sie sind auf vielen Ebenen dem christlich-jüdischen Dialog verbunden, aber sagen auch, er sei kein Kuschelkurs. Wo gibt es noch Reibung?
Ahrens: Ich meine damit, dass der Dialog früher etwas komisch verlaufen ist und man gesagt hat: Ich gebe ein bisschen von meiner Wahrheit auf und du gibst ein bisschen von deiner Wahrheit auf und dann treffen wir uns in der Mitte, halten Händchen und singen Halleluja. Dialog, wie ich ihn verstehe, bedeutet, dass man aus seiner eigenen Glaubenstradition heraus seine Wahrheit behält, aber trotzdem den anderen als legitimen Partner anerkennt. Das ist die große Herausforderung. Reibungen gibt es immer noch dort, wo weiterhin antijüdische Stereotype bestehen. Viele sprechen immer noch vom Rachegott des Alten Testaments und dem liebenden Gott des Neuen Testaments, leider auch unter Theologen. Und Israel und der Nahe Osten sind auch eine große Hypothek für den Dialog. Da fehlt mir eine differenziertere Positionierung der Kirchen. Wir hören im Diskurs vor allem entweder die Antizionisten oder die Fraktion der Hurra-Unterstützer Israels.
Der christliche Antijudaismus hat in der Geschichte schlimmen Schaden angerichtet. Lange war ein herablassender Blick auf das Alte Testament verbreitet. Kennen Sie das auch umgekehrt: einen arroganten Blick des Judentums auf das Christentum?
Ahrens: Sicherlich. Das gab es immer wieder und hat natürlich auch mit der Judenverfolgung zu tun. Gerade im Mittelalter entstanden Texte, die sehr polemisch gegenüber dem Christentum sind — sie hatten aber nie einen religionsrechtlichen Status. Es ist allerdings interessant, dass es trotz des Judenhasses auch viele positive Quellen zum Christentum gibt. Aber diese grundsätzliche Wertschätzung hat die christliche Seite gar nicht mitbekommen.
Die Evangelische Kirche im Rheinland bekennt sich in ihrer Kirchenordnung eindeutig zu Gottes Erwählung des Volkes Israel. Wie verstehen Sie diese Erwählung heute?
Ahrens: Diese rheinische Synodalerklärung von 1980 war wirklich wegweisend für die evangelischen Kirchen in Deutschland und ist es bis heute. Denn die Frage der Erwählung ist eines dieser vielen Missverständnisse. Es geht nicht darum, dass wir Juden etwas Besonderes sind, sondern dass wir durch die Thora eine Mission bekommen haben, so zu leben, wie Gott es sich für alle Menschen wünscht. Und das soll dann eine Strahlkraft in die Welt hinein entwickeln. Partikularismus und Universalismus sind im Judentum immer ganz stark verbunden. Durch die Erwählung des Volkes Israel eröffnet Gott also den Heilsweg für alle Völker.
Juden waren schon immer Minderheit, die Christen sind auf dem Weg dorthin. Was können sie dabei von den Juden lernen?
Ahrens: Das Wichtigste ist: Wie schaffe ich es, in einer Gesellschaft, in der ich eine kleine Minderheit bin, meinen Werten, Traditionen und Bräuchen treu zu bleiben und sie in die nächsten Generationen zu übermitteln? Darin sind wir Weltmeister.
Sehen Sie in Christen heute Ihre Verbündeten im Kampf gegen Antisemitismus?
Ahrens: Auf jeden Fall. Der Antisemitismus betrifft zwar oberflächlich nur uns Juden, aber er ist immer auch ein Indikator, wie weit eine Gesellschaft noch liberal, tolerant und demokratisch ist oder sich von diesen Werten verabschiedet. Antisemitismus ist letztlich auch immer antichristlich.
Haben Sie Verständnis dafür, dass Juden in Deutschland spätestens seit dem Anschlag in Halle innerlich wieder auf gepackten Koffern sitzen?
Ahrens: Der Antisemitismus ist auf jeden Fall präsenter, lauter und physischer geworden und das verunsichert uns. Ich glaube trotzdem, dass wir hier weiter gut und sicher leben können. Also leben wir vielleicht nicht auf gepackten Koffern, aber wir überlegen uns zumindest schon mal, wo unsere Sachen liegen.
Welche Zukunft geben Sie den Religionen?
Ahrens: Ich glaube, dass die Religionen als Institutionen vielleicht an Bedeutung abnehmen, aber weiter wichtig bleiben. Es gibt viele Säkulare, die meinen, Religionen seien der Grund allen Übels. Aber wenn man die religiösen Werte aus der Gesellschaft verbannt, wird es nicht automatisch besser. Wir haben viele Beispiele, in denen es eher schlechter wird. Die Werte der jüdisch-christlichen Tradition schlagen den Bogen zwischen individueller Freiheit und der Solidarität gegenüber den Schwachen. Wie gut, dass wir sie haben.
Vom jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber wird erzählt, er habe bei einem Seminar für Juden und Christen gesagt: „Ihr Christen glaubt, dass der Messias schon einmal hier war, wieder weggegangen ist und dass er wiederkommen wird. Wir Juden glauben, dass er kommen wird, aber dass er noch nicht hier war. Mein Vorschlag: Lasst uns doch zusammen auf ihn warten. Und wenn er kommt, können wir ihn ja selbst fragen, ob er schon einmal hier gewesen ist. Und ich werde in der Nähe stehen und ihm ins Ohr flüstern: ‚Sag nichts!‘“
Gefällt Ihnen diese Anekdote?
Ahrens: Das ist ein typisch jüdische Antwort und ich finde sie sehr schön. Wir müssen auf zwei Wegen weitergehen: Im Praktischen bestehen so viele Gemeinsamkeiten und Dinge, bei denen wir uns gegenseitig bereichern können. Und im Theologischen muss man nicht die eine abschließende Antwort geben, denn die gibt es wahrscheinlich gar nicht.