Politik Referendum ohne Rechtfertigung
Unabhängig von den wüsten Angriffen aus Ankara gibt es keine ethische Rechtfertigung, warum Deutschland eine Abstimmung über die Abschaffung der Demokratie zulassen sollte.
Düsseldorf. Den wichtigsten Wendepunkt in ihrer Kanzlerschaft, die Flüchtlings-Entscheidung vom 4. September 2015, beschrieb Angela Merkel wenige Monate später auf dem CDU-Bundesparteitag in Karlsruhe so: „Tausende Flüchtlinge waren in Budapest gestrandet. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg über die Autobahn in Richtung Österreich. Deutschland und Österreich haben dann eine Entscheidung getroffen, diese Menschen ins Land zu lassen. Das war eine Lage, die unsere europäischen Werte wie selten zuvor auf den Prüfstand gestellt hat. Ich sage: Dies war nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ.“
Nicht ihr Satz „Wir schaffen das“, sondern diese Entscheidung auf der Basis eines empfundenen „humanitären Imperativs“ hat Merkel seitdem immer wieder den Vorwurf eingetragen, in dieser Situation nach einer „Gesinnungsethik“ entschieden zu haben, die im Gegensatz zu einer zweckorientierten Ethik, in der der Zweck auch schon einmal die Mittel heiligt, sich nicht an den Folgen orientiert habe.
Der französische Philosoph Alain Finkielkraut bekannte in der „Zeit“ gar: „Ich habe Angst vor Merkels Gesinnungsethik.“ Plötzlich begannen Merkel-Kritiker Max Webers (1864— 1920) Unterscheidung in „Gesinnungs- und Verantwortungsethik“ gegen die Kanzlerin ins Feld zu führen, wahrscheinlich jedoch ohne Weber wirklich zu lesen.