„Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“

Am Dienstag vor 70 Jahren begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen. Damals wurde eine neue Dimension der Brutalität eröffnet.

Düsseldorf. "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!" Es war eine freche Lüge, mit der Adolf Hitler den Deutschen am 1. September 1939 um 10 Uhr vormittags den Kriegsbeginn gegen Polen erklärte. Doch die Stimmung im Reich war trotz der NS-Propaganda nicht so kriegseuphorisch, wie der "Führer" sich das gewünscht hatte.

Überall im Land registrierte die SS bei Deutschen eher Sorge als Kriegsbereitschaft. Die Mehrheit hatte noch die Schrecken des Ersten Weltkriegs im Kopf. Die Furcht sollte aber bald von Erfolgsmeldungen aus Polen überlagert werden.

Das erste Opfer hatte der Krieg schon vor dem Überfall auf Polen gefordert, es war ein Deutscher. Ein SS-Trupp in Zivil hatte am Abend des 31.August den Sender Gleiwitz überfallen, nahe der Grenze auf deutschem Gebiet.

Die Mitarbeiter des Senders wurden gefesselt, ein SS-Mann schrie einige Hetzparolen ins Mikro. Die Leiche eines von der SS zuvor ermordeten Mannes wurde als "Beweis" für den angeblich polnischen Überfall zurückgelassen. Für Hitler war es die letzte einiger inszenierter "polnischer Provokationen", der Vorwand für das "Zurückschießen".

Der Überfall begann Stunden später. Die bekannte Darstellung, die ersten Schüsse seien ab 4.45 Uhr auf das polnische Fort Westerplatte abgefeuert worden, ist nicht ganz richtig. Neuere Forschungen zeigen, dass der Krieg mit einem brutalen Überfall begann.

Schon um 4.20 Uhr fielen 29 deutsche Sturzkampf-Bomber über das polnische Städtchen Wielun nahe der Grenze her: 16.000 Einwohner, kein Militär, kein Verkehrsknotenpunkt, keine Rüstungsfabriken. Nach drei Angriffswellen lag Wielun in Schutt und Asche. Rund 1.000 Menschen starben. Der Kriegsbeginn war eine Terrorattacke.

Für das, was folgte, prägte die NS-Propaganda das Wort "Blitzkrieg". Schon nach drei Tagen war die polnische Luftwaffe ausgeschaltet. Nach zwei Wochen war Polen praktisch geschlagen, im Osten fiel die Rote Armee ein und besetzte den Teil des Landes, der ihr zuvor im Hitler-Stalin-Pakt zugebilligt worden war. Der Kriegseintritt Frankreichs und Englands am 3. September soll Hitler zwar zunächst geschockt haben, beide Länder überließen Polen aber seinem Schicksal.

14.000 deutsche Soldaten verloren bis zur Kapitulation Polens am 6. Oktober ihr Leben, gar 70.000 waren es auf polnischer Seite. Doch die Gesamtzahl der Opfer lag deutlich höher. Einige deutsche Soldaten vertrauten ihren Tagebüchern Grausames an: "Als die Aktion beendet ist, brennt das ganze Dorf.

Am Leben bleibt niemand, haben auch alle Hunde erschossen", schreibt ein Soldat nach einem Einsatz im polnischen Pludwiny. Solche Taten dokumentiert Jochen Böhler in seinem Buch "Der Überfall". Unter Historikern ist umstritten, ob hier schon der Vernichtungskrieg begann, dem später in Russland Millionen zum Opfer fielen, oder ob es sich um vereinzelte, ungeplante Gräueltaten handelte.

Unbestritten ist, dass im Rücken der Wehrmacht SS-Einheiten wüteten. Sie töteten schon in den ersten Monaten rund 60.000 polnische Zivilisten. Einzelne Generäle und Offiziere der Wehrmacht protestierten bei der Heeresleitung - ohne Erfolg.

Doch das alles war nur der Auftakt für ein grausames Besatzungsregime und einen brutalen Vernichtungsfeldzug im Osten. Bis zum Kriegsende 1945 verlor allein Polen durch Kämpfe und NS-Terror jeden sechsten Bürger: rund 5,7 Millionen Menschen, darunter 3 Millionen Juden. Die deutschen Soldaten, die von der Ostfront heimkehrten, waren oft schwer traumatisiert. Gezeichnet von dem Schrecken des Krieges, einige tief verstrickt in eigener Schuld.