Urteil vom Bundesverwaltungsgericht Sterbehilfe: Todes-Medikamente vom Staat? - Unsicherheit wegen Richterspruch
Ein renommierter Rechtsgutachter kritisiert ein höchstrichterliches Urteil. Dieses hatte die Behörde in der Pflicht gesehen, Sterbewilligen im Extremfall bei ihrem Suizid zu helfen.
Düsseldorf. Muss der Staat sterbewilligen Menschen helfen, in den Besitz tödlicher Medikamente zu kommen? In Extremfällen muss er das, urteilte das Bundesverwaltungsgericht im März 2017 (Az. 3 C 19.15). Seither gingen mehr als 80 Anträge von zum Sterben Entschlossenen beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein.
In der Bonner Behörde gibt es jedoch große Unsicherheit, ob der Richterspruch angesichts der weitreichenden Auswirkungen tatsächlich Richtschnur sein kann. Ob sich nicht vielleicht Behördenmitarbeiter oder auch Apotheker strafbar machen, wenn sie grünes Licht für den Erwerb der Medikamente geben. Darum hat das BfArM ein Gutachten bei dem früheren Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio in Auftrag gegeben. Der widerspricht dem Bundesverwaltungsgericht auf seiner gut 100-seitigen Expertise. Der Staat dürfe Sterbewilligen nicht helfen, fordert er.
Nun steht ein höchstrichterliches Urteil gegen die Expertise eines früheren höchsten Richters. Die Verwirrung erscheint komplett. Und die Antragsteller warten vergeblich auf Hilfe, auf die sie nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gehofft hatten.
Eine Frau ist seit einem Unfall im Jahr 2002 vom Hals abwärts gelähmt. Sie wird künstlich beatmet und ist auf ständige medizinische Betreuung und Pflege angewiesen. Häufige Krampfanfälle verursachen starke Schmerzen. Sie empfindet all das als unerträglich und entwürdigend und will aus dem Leben scheiden. Ihren Sterbewunsch bespricht sie mit ihrem Ehemann, ihrer Tochter, behandelnden Ärzten, Psychologen, Pflegepersonal und einem Geistlichen. Nach ärztlicher Diagnose besteht keine Aussicht auf Besserung ihres Zustands. Im November 2004 beantragt sie beim BfArM die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis eines Betäubungsmittels. Das BfArM lehnt ab. Begründung: die Erwerbserlaubnis mit dem Ziel der Selbsttötung sei vom Zweck des Betäubungsmittelgesetzes nicht gedeckt.
Anfang 2005 reist die Frau mit ihrem Ehemann in die Schweiz, wo sie sich mit Unterstützung eines Sterbehilfe-Vereins das Leben nimmt.
Der Witwer will die Sache aber nicht auf sich beruhen lassen. Um anderen Betroffenen in Zukunft ein solches Schicksal zu ersparen, klagt er auf Feststellung, dass das BfArM zur Erlaubniserteilung verpflichtet gewesen wäre. Doch er scheitert auf dem langen Rechtsweg durch die Gerichts-Instanzen. Sie alle halten ihn für nicht klagebefugt. Weil ja nicht ihm, sondern seiner verstorbenen Frau das Medikament verweigert worden sei. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheidet 2012, dass der Witwer sehr wohl ein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach der Europäischen Menschenrechtskonvention hat. Und einen Anspruch darauf, dass die nationalen Gerichte die Begründetheit der Klage prüften. Daraufhin geht der Zug durch die Instanzen erneut los. Erst das Bundesverwaltungsgericht gibt dem Witwer Anfang 2017 Recht.
Die Richter sagen zwar, dass es grundsätzlich nicht der Sinn des Betäubungsmittelgesetzes ist, den Erwerb eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung zu erlauben. Davon müsse aber für schwer und unheilbar kranke Patienten in Extremfällen eine Ausnahme gemacht werden: Wenn sie wegen ihrer unerträglichen Leidenssituation frei und ernsthaft entschieden haben, ihr Leben beenden zu wollen. Und wenn es keine zumutbare Alternative gibt. Ihnen dürfe der Zugang zu einem Betäubungsmittel, das eine würdige und schmerzlose Selbsttötung erlaubt, nicht verwehrt sein. Für den mittlerweile 74-jährigen Kläger ist das Urteil eine große Genugtuung. Die Entscheidung habe Signalwirkung für ähnlich gelagerte Fälle.
Bisher bleibt diese Signalwirkung jedoch aus. Das BfArM argumentiert, dass es nicht in der Lage sei, eine Ausnahmesituation verlässlich zu beurteilen, in der es einem Sterbewilligen ein tödliches Medikament verschreiben soll. Das hatten auch die Richter zugestanden. Sie hatten aber auch gesagt, dann müsse das Amt externen Sachverstand für die Beurteilung hinzuziehen.
Mit diesem Rat gibt sich die Behörde nicht zufrieden und beauftragt den früheren Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio mit einem Gutachten, ob das Urteil verfassungsrechtlich in Ordnung sei und welche Leitlinien denn nun für das Handeln der Behörde in vergleichbaren Fällen gelten solle.
Der Gutachter zerreißt daraufhin das höchstrichterliche Urteil in der Luft. Dieses sei verfassungsrechtlich nicht haltbar. Es bestehe „keine verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates, einem Sterbewilligen die für den Freitod notwendigen Mittel zu verschaffen oder ihm den Zugang dazu zu ermöglichen“. Nur der Gesetzgeber, nicht aber das Bundesverwaltungsgericht könne eine solche grundsätzliche Entscheidung treffen.
Di Fabio gibt auch gleich die Richtung vor: „Der Gesetzgeber ist berechtigt, die Mittel zu verweigern, wenn er in einer ‚Assistenz‘ zur Selbsttötung zugleich Gefahren einer künftig entstehenden Routine zur Verabreichung tödlich wirkender Substanzen bis hin zur gesellschaftlichen Erwartung des Suizids erkennt, und damit einer künftigen Würdegefährdung in anderen Kontexten entgegenwirken will.“
Nun ist der Gesetzgeber in dieser Frage bislang nicht aktiv geworden. Andererseits gibt es mehr als 80 Menschen, die beim BfArM beantragt haben, Medikamente zu erlangen, um aus dem Leben zu scheiden. Kann die Behörde nun wirklich unter Berufung auf das Gutachten die Entscheidung über jeden dieser Fälle auf Eis legen? Auch wenn es ein ehemaliger Verfassungsrichter ist, der da seine Einschätzung abgegeben hat, so ist und bleibt es nur ein Gutachten. Eine Expertise, die gegen eine verbindliche höchstrichterliche Entscheidung steht. Und die Richter haben der Behörde ganz ausdrücklich eine andere Marschrichtung vorgegeben.
Nun könnte zwar demnächst der Gesetzgeber tätig werden, so wie Gutachter di Fabio es angeregt hat. Doch das würde den Betroffenen in ihrer Situation kaum helfen. Bis ein Gesetz in Kraft träte, das die Frage verbindlich regelt, verginge viel Zeit.
Um eine Entscheidung in dem von ihm geforderten Sinne zu fördern, gibt Gutachter di Fabio Ratschläge in zwei Richtungen: das BfArM solle sich weigern, in den Fällen den Antragstellern eine Erlaubnis zum Erwerb der Medikamente zu erteilen. Und dem Bundesgesundheitsminister empfiehlt er einen „Nichtanwendungserlass“. So würde dem BfArM erlaubt, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu ignorieren.
Eine Sichtweise, für die Robert Roßbruch ganz und gar kein Verständnis hat. Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben vertritt als Anwalt mehrere Menschen, die in einer vergleichbaren Situation sind wie die Frau, auf dessen Schicksal sich das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bezog.
Auch Roßbruchs Mandanten haben beim BfArM das Verschreiben der notwendigen Medikamente beantragt. Weil keine inhaltliche Reaktion erfolgte, laufen vor dem Verwaltungsgericht Köln Untätigkeitsklagen. Roßbruch kritisiert im „Humanistischen Pressedienst“ die „systematisch praktizierte Verzögerungstaktik des BfArM“. Der Anwalt sagt: „Es steht zu vermuten, dass dieser Taktik wohl die Annahme zugrunde liegt, dass sich hierdurch die meisten Anträge ,biologisch erledigen’. Diese zynische Rechnung scheint auch in nicht wenigen Fällen aufzugehen.“
Das Urteil im Internet: bit.ly/2Acjngw
Das Gutachten im Internet: bit.ly/2GxzOHC